Eidernebel
Nieselregen auf dem Weg hierher zu einem unangenehmen Regenschauer geworden. Im Norden gilt die alte Weisheit: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung, hatte er sich noch vor der Abfahrt gesagt.
Trotzig zieht er sich den Südwester über die Ohren, fingert angespannt die Taschenlampe aus der Jackentasche des Ölzeugs und folgt dem Lichtschein, den er vor sich über die Gehplatten gleiten lässt. Trotz des schürfenden Geräuschs, das sein Regenzeug bei jeder Bewegung verursacht, glaubt er plötzlich ein Knacken gehört zu haben. Er bleibt stehen, späht erschreckt in alle Richtungen, kann aber nichts entdecken.
Nachts haben Gräber immer etwas Unheimliches, denkt er und ahnt, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Eigentlich kennt er solche Angst nicht, denn viel zu oft ist er in der Nacht schon allein durch die Gegend gezogen. Aber heute scheint eindeutig etwas anders zu sein und um sich innerlich zu beruhigen, versucht er an das gelöste Rätsel von Katharinenheerd zu denken, das ihn noch zu dieser unsäglichen Zeit hierher gelockt hat.
Wieder ein Knacken.
Und wieder gibt es in der Dunkelheit nichts zu entdecken.
Der alte Drachentöter wird doch nicht um die Kirche spuken?
Michael Moraht klammert sich fest an den Griff seiner Taschenlampe und lässt den Strahl langsam über die Kirchturmwand gleiten. Der Cache soll sich, so hatte die Mitteilung im Internet versprochen, von selbst bemerkbar machen. Mit den mysteriösen Sätzen im Ohr schreitet er die linke Turmseite ab, während der Lichtkegel die Ziegel ableuchtet. Jeden Moment kann etwas passieren, seine Anspannung ist kurz vor dem Höhepunkt. Plötzlich blitzt ein winziges Licht auf. Der junge Mann tritt an die Mauer heran und stellt fest, dass es aus einer Mauerlücke kommt. Seine Fingerspitzen reichen mit Mühe heran. Erst als er sich auf die Zehenspitzen stellt, kann er die Plastikfilmdose herausfummeln. Ein Phosphor-Klebeband ist darum gewickelt.
Das ist das Geheimnis! Deshalb konnte der Cache sich also selbst bemerkbar machen!
Er schließt die kleine Dose fest in seine Hand. Als er sich umdreht fliegt wie aus dem Nichts ein großer Schatten auf ihn zu. Zwei Hände packen seine Schultern und reißen ihn zu Boden. Er will schreien, doch ein Unterarm legt sich über seinen Nacken und drückt sein Gesicht mühelos ins nasse Gras. Todesangst ergreift seinen Körper, er glaubt zu ersticken. Doch obwohl er seine letzten Kräfte mobilisiert, kann er seinen Kopf keinen Zentimeter mehr bewegen.
»Wenn du nicht augenblicklich gestehst, wirst du Erde fressen«, flüstert ihm eine Stimme bedrohlich ins Ohr. »Also Freundchen, überleg nicht lange. Du hast drei Versuche!«
Der Druck im Nacken lockert sich ein wenig. Michael Moraht schnappt gierig nach Luft, muss husten und es braucht einen Moment, bis er stammelt: »Sind Sie nicht bei Trost, Mann? Was wollen Sie von mir?«
»Versuch eins, falsche Antwort!«, zischt die Stimme und drückt ihn brutal ins Gras zurück. »Ich will dein Scheiß-Geständnis, hast du verstanden!«
Wieder lockert sich der Druck. Er überlegt in Panik, was da mit ihm passiert, was dieser Irre, der auf seinem Rücken hockt, von ihm hören will.
»Ehrlich, Mann, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln! Lassen Sie mich sofort los!«
»Noch einen Versuch, du kleine Ratte! Das ist meine letzte Warnung!«, droht der Schatten und drückt sein Gesicht abermals ins Gras.
»Polizei Husum, lassen Sie sofort den Mann los«, hört er plötzlich eine Person schreien, dann fällt ein Schuss und ihm wird schwarz vor Augen.
*
Swensen schlägt die Augen auf und starrt ungläubig auf eine geflieste Wand, schmutzig gelb, als würde sein Blick in eine fremde Welt fallen. Einen beunruhigenden Augenblick lang weiß er nicht, wo er ist, bis dieser trügerische Zustand zwischen Schlafen und Wachen wieder verschwunden ist. Die Erinnerung kehrt zurück. Er richtet sich auf, bleibt eine Weile auf dem Rand der Pritsche hocken und spürt, wie sein Kopf sich mit Gedanken füllt. Ihm fällt die Szene aus dem Verhörraum vom gestrigen Abend ein, realistisch grell sitzt der hochgewachsene Mann im regennassen Kampfanzug vor ihm auf dem Stuhl. Er empfängt Swensen mit argwöhnischen Blicken, zeigt sonst keinerlei Regung. Das fast vierkantige Gesicht ist starr wie aus Stein gemeißelt, die Arme sind abweisend vor der Brust verschränkt. Die kurz geschnittenen Haare haben sich durch die Feuchtigkeit zu stacheligen Büscheln
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