Eidernebel
Frau. »Wenn ich irgendetwas ausplaudere, was denen da oben nicht passt, bin ich weg vom Fenster, Herr Kommissar.«
»Ihre Kollegin Dorit Missler ist ermordet worden. Ist Ihnen das etwa egal?«
»Natürlich ist mir das nicht egal. Aber da ist unser Filialfreddie davor. Ich muss hier schließlich weiterarbeiten, wenn Sie wieder weg sind.«
»Ihr Filialleiter erfährt kein Wort von dem, was wir hier ermitteln.«
»Es gibt einen Spruch: Bei Libo haben die Wände Ohren.«
»Hatte Frau Missler auch Ärger mit Ihrem Chef?«
»Genauso wie wir alle hier. Wenn man nur einen Moment mit dem Typen allein ist, kommt ein dummer Spruch.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«
»Ein Beispiel gefällig: Kleine Frauen mit großen Nasen, die machen Probleme beim Blasen. Reicht das?«
Mielke realisiert im selben Moment den kleinen Höcker auf der Nase der Frau und blickt verlegen zu Jacobsen hinüber, der aber stur zum Fenster hinaussieht und den Eindruck erweckt, als würde er sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.
»Sie meinen also, dass Ihr Chef auch Frau Missler mit solchen Sprüchen belästigt hat?«
»Ich hab das nie persönlich gehört, aber immerhin war die Dorit total sauer auf den Filialfreddie, weil Sie eine Abmahnung bekommen hat, wegen 2,15 Euro Differenz in der Kasse. Fuchsteufelswild ist die gewesen, wollte, dass wir hier sofort einen Betriebsrat wählen.«
»Einen Betriebsrat?«
»Ja, Dorit war ganz besessen von der Idee«, schluchzt die junge Frau. »Aber das Thema hat sich für die Herren da oben ja jetzt von allein erledigt. Das passt denen bestimmt gut in den Kram!«
Die Frau hält inne, holt tief Atem und guckt mit leerem Blick an Stephan Mielke vorbei. Tränen rollen ihr die Wangen hinab. »Ich kann es noch immer nicht glauben, dass man sie ermordet hat. Wer macht denn so was?«
Oberkommissar Mielke zuckt mit den Achseln: »Wir wissen es noch nicht!«
*
In der Nacht muss es kräftig geregnet haben. Auf dem Asphalt der schmalen Straße am Dorfrand von Witzwort spiegeln sich die Wolken in dem Nässefilm. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fluten über die Koppeln, während Swensen mit ausholenden Schritten über den Feldweg sprintet und die kühle Morgenluft durch den Mund einzieht. Die Reitpferde heben die Köpfe, verfolgen neugierig den Mann, der feldeinwärts weiterläuft. Die rhythmischen Bewegungen versetzen Swensen in Hochstimmung. Er lässt das Ortsausgangsschild von Witzwort hinter sich, genießt die Ruhe und den Anblick der Landschaft. Die Rotoren der Windräder drehen stoisch ihre Runden, der Hauptkommissar macht ihnen Konkurrenz.
Als er vor knapp einem Monat mit dem Joggen angefangen hatte, war er nach der morgendlichen Runde noch richtig fertig gewesen. Mittlerweile kann er die Strecke ohne Probleme bewältigen.
Swensen ist in der Zwischenzeit an der Stelle angekommen, wo er wieder zurückläuft. Plötzlich schnellt ein rötlicher Schatten aus den Büschen, bewegt sich zielsicher durch das feuchte Gras und gleitet graziös unter einem Weidezaun hindurch.
Ein Fuchs, wahrscheinlich auf der Pirsch, vermutet er und neidet dem Raubtier seine vermeintliche Freiheit. Obwohl, Füchse und Polizisten haben auch gewisse Ähnlichkeiten. Wenn sie eine Spur aufgenommen haben, sind sie nicht mehr davon abzubringen.
Der Kriminalist sieht noch kurz die weiße Spitze des buschigen Schwanzes aufleuchten, bevor die Natur das Tier wieder verschluckt hat.
»Wenn wir Menschen den uns innewohnenden Gesetzen folgen würden, würden wir genauso vollkommen wie die Tiere sein«, hört er die Stimme seines Meisters. »Sie können besser sehen und hören, haben einen besseren Geruchssinn und besitzen Fähigkeiten, die wir Menschen schon lange verloren haben. Ein Tier in seiner natürlichen Umwelt ist vollkommen. Ein Mensch dagegen, der konstant das bleibt, was er gerade ist, wird niemals vollkommen sein.«
Eine halbe Stunde später ist Swensen mit verschwitztem T-Shirt auf dem Rückweg. Er läuft die Dorfstraße hinauf, kann bereits das Reetdach seines neuen Zuhauses sehen, als er von hinten ein Motorgeräusch vernimmt. Der Hauptkommissar weicht mit einem Tritt zur Seite auf den Grünstreifen aus, da bleibt der silberne Milchlaster mit einem Zischen der Luftdruckbremse auf der anderen Straßenseite stehen.
»Moin, Moin!«, ruft jemand aus dem Führerhaus herüber. »Gut, dass ich dich treff, Jan!«
Swensen erkennt das kantige Gesicht von Albert Pahl, einem seiner neuen Boßelfreunde,
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