Eidernebel
und sein Arbeitgeber Erich Mielke ihnen allen noch in letzter Minute einimpfen wollte: Wenn wir verlieren, werden sie uns alle aufknüpfen.
Und mit dem ›sie‹ war das Volk gemeint, das in Massen draußen auf den Straßen bereits ›Wir sind das Volk‹ brüllte. Von dort kamen auch immer neue Gerüchte. Plötzlich hieß es von irgendwoher: Ein amerikanisches U-Boot soll vor der türkischen Küste gesichtet worden sein. Im nächsten Moment schwor jemand: Die amerikanischen B52-Bomber stehen befehlsbereit und Mielke ist bereits aus der Kommandobrücke getürmt. Als ihm daraufhin mitten in der Nacht ein naher Kollege versichert hatte: »Ein russisches U-Boot ist vor der Norwegischen Küste versenkt worden«, wäre er vor Angst beinahe abgedreht. Seine innere Stimme hatte ihn gewarnt: Du musst sofort alle Akten vernichten, in denen dein Name auftaucht. Bald wird das Chaos ausbrechen, der Mob von der Straße wird alles durchwühlen und danach weiß jeder, was du bei der Stasi gemacht hast.
Er war in das Zimmer seines Vorgesetzten gestürmt und hatte gebrüllt: »Wir müssen den gesamten Aktenscheiß durch den Reißwolf jagen!«
»Es gibt keinen Befehl von oben, Wilhelm!«
»Da kannst du lange warten, Mann! Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Jetzt ist sich jeder selbst der Nächste!«
Er hatte alle Akten, die meterlang in den Regalen standen, aus den Schränken geräumt und in mehreren Fuhren im Kofferraum seines Wagens in seinen Schrebergarten gefahren und die Berge von Papier nach und nach im alten Eisenofen der Laube verbrannt. Fünf Tage lang hatte er mit hochrotem Kopf vor dem rot glühenden Ofen gestanden und die schwarzen Rauchwolken beobachtet, die sich in den Himmel drehten. Als er fertig gewesen war, stand sein Nachbar am Gartenzaun und hatte ihn angepflaumt: »Du elende Stasiwanze, deine Schandtaten lassen sich nicht einfach verbrennen! Jetzt kommt auch die Inquisition zu dir, mein Lieber! Ich hoffe, du wirst auf dem Scheiterhaufen schmoren! Wir sind das Volk!«
Diese beknackten Montagsdeppen, denkt Rösener, keine Ahnung hat dieses dämliche Volk gehabt, wer ›wir‹ damals alle waren. Hat doch glatt geglaubt, mit dieser Bundesrepublik Deutschland kommt das Schlaraffenland zu ihnen in den Osten. Von ›Blühenden Landschaften‹ hat Birne ununterbrochen gefaselt. Blühende Landschaften, dass ich nicht lache. Als Erstes haben diese Wessis die Treuhand erschaffen, aus dem Nichts, zeitweise die größte Staatsholding der Welt. Die verkaufte in weniger als fünf Jahren fast 14.000 unserer Ostunternehmen an private Bonzen ihrer Wahl. Den Rest haben sie gnadenlos dichtgemacht. 600 Milliarden ist der ganze Salat wert, sagte Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder damals, verschleudert haben sie es für knappe 67 Milliarden. Bei ihrer Selbstauflösung hinterließ diese treue Hand einen Schuldenberg von 250 Milliarden Mark. Kein Wunder, dass da nichts mehr richtig blühen wollte. Wenn das nicht eine symbolische Entwicklung gewesen ist.
Ich kann mich jederzeit im Spiegel ansehen, sagt Rösener sich, starrt auf sein Gesicht im Spiegel und hält seinem eigenen Blick stand.
Die Probleme der DDR waren doch nicht hausgemacht. Es herrschte Kalter Krieg, damals! Innere Sicherheit ist schließlich eine Dienstleistung für den Staat, auf welchem Feld auch immer. Was war denn mit dem Kapitalismus und den demokratischen Staaten? Hatten die etwa keine Nachrichtendienste, wenn es um die innere Sicherheit ging? Wieso werden die Methoden, die ich benutzt habe, heute so rigoros als unmoralisch angeprangert? Politik ist nicht die Umsetzung von Moral, sondern von gesellschaftlichen Interessen. Was ist an meiner heutigen Arbeit für diesen Libo-Konzern denn eigentlich anders, als das, was ich im Ministerium für Staatssicherheit gemacht habe? Selbst die Kirche, die sich die Zehn Gebote auf ihre Fahnen geschrieben hat, verstößt seit Jahrhunderten ohne Skrupel gegen genau diese Gebote. War die Hinrichtung der Andersdenkenden auf den Scheiterhaufen vielleicht kein Mord? Was war da mit dem fünften Gebot: Du sollst nicht töten? Hatte da etwa das Gute über das Böse gesiegt? 1990 waren alle davon überzeugt gewesen. Folglich war alles, was ich für den Staat der DDR getan habe, mit einem Mal kriminell und verbrecherisch. Ich habe das damals gleich geahnt und bin sofort im Westen untergetaucht. Und siehe da, heute mache ich ganz legal dasselbe wie damals. Und meine Auftraggeber? Dr. Kreienbaum findet meine Arbeit jedenfalls
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