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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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bestimmt annehmen müsste, dass sie voll auf Droge sei.
    Aber was soll ich machen?
    Ich habe keine andere Wahl.
    In der ersten Zeit, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie panische Angst gehabt. Schon der Gedanke zum Bäcker zu gehen, war eine Horrorvorstellung gewesen. Dort draußen vor der Wohnungstür beginnt eine gefährliche Welt, hatte sie sich in ihrer Vorstellung ausgemalt, dort draußen lauern an jeder Türklinke Armeen von feindlichen Keimen, die nur darauf warten, dass sie über meinen immungeschwächten Körper herfallen können.
    Die Angst vor Ansteckung ist mittlerweile fast verflogen, es sei denn, sie muss in einen Raum voller Menschen. Die Aversion gegen den täglichen Tablettencocktail besteht jedoch nach wie vor. Manchmal beginnen Lisa Blaus Hände zu zittern, wenn sie nur an die Einnahme denkt, manchmal quält sie ein trockener Reizhusten, wenn die tägliche Medikamentenmenge vor ihr auf dem Tisch liegt.
    Heute ist die Situation anders, eine andere Anspannung überlagert das unangenehme Pillenritual. Gestern Abend hatte diese Journalistin aus Husum angerufen, die vor einiger Zeit ein Interview mit ihr gemacht hatte, und von einer Entdeckung gesprochen, die sie Lisa Blau unbedingt persönlich mitteilen wolle. Die Tanzlehrerin ahnte sofort, dass es um ihre Spenderin gehen muss, doch am Telefon wollte die Pressefrau partout nichts herausrücken. So hatten sie für den heutigen Vormittag einen Termin im Zentrum von Kiel vereinbart.
    Lisa Blau schaut auf die Uhr, sie ist noch gut in der Zeit. Vor der Haustür lauert ein feiner Nieselregen. Sie dreht sofort wieder um, holt einen Schirm und zieht ein Regencape über. Der erste Bus ist so brechend voll, dass sie sich entschließt, auf den nächsten zu warten, der kurze Zeit darauf auch eintrifft. Lisa Blau setzt sich abseits von den anderen Fahrgästen auf die hintere Sitzbank. Von der Haltestelle aus ist es nicht weit bis zur Andreas-Gayk-Straße. Als sie das Stadt-Café betritt und Maria Teske entdeckt, schlägt ihr Herz augenblicklich bis zum Hals. Die Journalistin winkt ihr zu und sie setzt sich mit zitternden Knien zu ihr an den Tisch.
    »Hallo, Frau Blau! Möchten Sie auch einen Cappuccino?«, fragt Maria Teske, die bereits vor einer Tasse mit zimtbestäubtem Milchschaum sitzt.
    »Wenn ich ehrlich bin«, sagt Lisa Blau und verzieht leicht ihren Mund, »ich hätte lieber ein Glas Cola.«
    »Cola? Wirklich?« Die Journalistin sieht die Frau erstaunt an.
    »Früher konnte ich Cola nicht ausstehen«, gesteht Lisa Blau, »aber zurzeit hab ich einen richtigen Janker darauf!«
    Maria Teske winkt die Bedienung heran, bestellt die gewünschte Cola und lehnt sich zurück. Lisa Blau sieht an ihrem Gesichtsausdruck, dass es ihr nicht leicht fällt, die passenden Worte zu finden.
    »Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie, Frau Blau.«
    »Geht es um meine Spenderin?«, fragt die Tanzlehrerin, starrt der Pressefrau in die Augen und rutscht dabei ungeduldig auf der Sitzbank hin und her.
    »Ja, ich habe ein wenig in Husum recherchiert. Dabei habe ich herausgefunden, dass Ihr Traum, von dem Sie in unserem Interview berichtet haben, der Wirklichkeit entspringt. Ihre Spenderin hieß mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Marion Döscher.«
    Lisa Blaus Gesicht wird bleich, für einen kurzen Moment schwinden ihr die Sinne. »Mein Gott«, bringt sie mit Mühe heraus, während ihr die ersten Tränen die Wangen herabkullern. »Sind Sie sich da völlig sicher?«
    »Wie gesagt, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit.«
    »Und … was … meinen Sie mit einer … schlechten Nachricht?«
    »Nun … ich weiß nicht, wie ich es am besten sage, aber Ihre Spenderin wurde … ermordet. Es tut mir leid, aber das sind leider die Tatsachen.«
    Lisa Blau merkt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Er wird glühend heiß. Ihr Herz pocht in kurzen Schlägen in ihrer Brust. Gleichzeitig kann sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wortfetzen branden wie Wellen an ihren Verstand und spülen über den Sand ihrer Seele. Ihr Körper ist blockiert. Vor ihren Augen taumeln grüne Lichtpünktchen, die treibendem Plankton gleichen, die schreckliche Informationen in die Nischen ihrer Organe wirbeln, ohne dass sie sich wirklich absetzen können. Gefühlt einige Minuten lang sitzt sie stumm auf der Bank, ihr innerer Blick tastet sich durch ein Universum von Erinnerungen. Es hat etwas Unheimliches, Bedrohliches, als würde ihr Selbst den Bezug zum eigenen Körper

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