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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Scheinwerfer errichten vor ihnen eine Lichtmauer, die erst bei Gegenverkehr durchbrochen wird, wenn die Lampenkegel der entgegenkommenden Fahrzeuge durch die Dunkelheit heranstürzen und am Seitenfenstern vorbeiflammen. Swensen bekommt Kopfschmerzen.
    Nur keinen Small Talk mit dem Taxifahrer, denkt er, fühlt sich von der kommenden Situation überfördert und grübelt über den Sinn des Ganzen nach, wie damals in seiner Studentenzeit, als er ein Semester versucht hatte, Philosophie zu studieren.
    »Du studierst Philosophie?«, lauteten seinerzeit die abfälligen Fragen der meisten Studenten aus den anderen Fachbereichen.
    »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern«
    »Philosophisches Gequatsche ist doch nur der Zeitvertreib der Bourgeoisie.«
    Auf den Versammlungen wurde ununterbrochen von der Masse der Werktätigen geredet, von materieller Produktion, materiellen Mitteln und materiellen Werten. Spirituelles war allen um ihn herum höchst suspekt, war eben Opium fürs Volk.
    »Marx hat gesagt: Das religiöse Gemüt ist einzig und allein ein Produkt der gesellschaftlichen Umstände.«
    Swensen hatte derweil begonnen, die Schriften von Buddha zu lesen: ›Jene sind nicht weise, deren Gedanken nicht gefestigt sind und deren Geist nicht gelassen ist, die den Dharma, das Lebensgesetz, nicht kennen. Jene sind weise, deren Gedanken gefestigt sind und deren Geist gelassen ist, unberührt von Gut und Schlecht. Sie sind wach und frei von Angst.‹
    In einer Zeitschrift hatte er einen Artikel entdeckt, in dem stand, dass die Schweiz in den frühen 60er-Jahren etwa 1.000 tibetische Flüchtlinge aufgenommen hatte. In deren Folge war es zu mehreren buddhistischen Klostergründungen gekommen. Dort schien ein Weg zu sein, sich selbst zu finden.
     
    Der pochende Schmerz in der Stirn gibt keine Ruhe. Der Hauptkommissar versucht seine Gedanken ziehen zu lassen, ohne anzuhaften, blickt in die schemenhafte Landschaft, die durch die Dunkelheit an seinem Seitenfenster vorbeigezogen wird, und spürt eine unbehagliche Angst im Nacken, möchte eigentlich nicht dort ankommen, wo die Realität gerade ein Horror-Szenario ausgebreitet hat.
    Der Aufenthalt in dem buddhistischen Tempel hat zwar meinen Geist gefestigt, denkt er, hat mich sogar zum Kriminalbeamten werden lassen, aber ich bin bis heute noch nicht so gelassen, dass mich das Böse unberührt lässt.
    Kurz hinter dem Bahnübergang über die A5 biegt das Taxi links in Richtung Uelvesbüll ab. Es geht schnurgeradeaus weiter, an flachen Marschwiesen und reetgedeckten Bauernhöfen vorbei. Das Dorf liegt versteckt hinter Bäumen. Von links sickert ein heller Lichtschein durch das dichte Laub.
    »Da müssen wir hin!«, dirigiert Swensen den Taxifahrer zur Seitenstraße, die zum Platz vor der Kirche führt.
    Kurze Zeit später stoppt der Wagen vor einer Doppelreihe von Schaulustigen. Der Hauptkommissar bezahlt, lässt sich eine Quittung geben, steigt aus und bahnt sich einen Weg durch die Menschen bis zum Absperrband, das weiträumig um das Kirchengelände gespannt ist. Das Gebäude von St. Nikolai ist ein schlichter Ziegelbau, der in unmittelbarer Nähe zum Deich auf einem niedrigen Hügel steht, welcher auch als Friedhof dient. Mehrere Strahler haben den Eingangsbereich des Turms hell erleuchtet. Swensen duckt sich unter dem Plastikband hindurch und geht auf die offene Pforte zu. Davor steht Paul Richter, ein Streifenpolizist aus Husum, der dem Kriminalisten sagt, dass der Weg zur Kirche hinauf noch von der Spurensicherung untersucht werden muss.
    »Sie können dort oben aufs Gelände kommen«, erklärt Richter und deutet mit dem Finger in die Richtung. Als Swensen über das hüfthohe Geländer auf das Grundstück klettert, sieht er im Lampenlicht Silvia Haman, Rudolf Jacobsen und Jean-Claude Colditz stehen. Er tappt durch die Dunkelheit auf sie zu.
    »Ich fürchte, das Unsagbare dürfte jetzt passiert sein«, empfängt ihn der Chef der SOKO Kirche, als er Swensen kommen sieht. »Eine Frau …, so etwas Schreckliches hab ich noch nicht geseh’n. Der Unterleib ist teilweise aufgeschnitten. Ich würd mir das im Moment nicht antun, Jan, warte bis der Körper zugedeckt ist. Die Tote ist nur halb bekleidet, die Kleidung ist an mehreren Stellen zerschnitten, teilweise auch aufgerissen.«
    »Wurde sie wieder vor den Altar gelegt?«, fragt Swensen.
    »Nein, diesmal nicht. Sie liegt draußen, direkt vor der Kirchentür. Die Tür ist

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