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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen. Weh aber euch, Land und Meer! Denn der Teufel ist zu euch gekommen. Seine Wut ist groß, weil er weiß, dass ihm nur noch eine kurze Frist bleibt.«
     
    Etwas lässt ihn vom Tisch aufspringen, etwas in seinem Hirn, das den Bilderspuk in seinem Kopf abschütteln möchte. Da sind sie wieder die Zweifel, die er seit seiner Kindheit mit sich herumschleppt. Den Himmelssturz von Luzifer hatte er schon damals als zutiefst ungerecht empfunden. Warum hatte Gott, der Schöpfer, zugelassen, dass der gute Engel böse werden konnte? Und was heißt es denn überhaupt, böse zu werden? Ist es nicht ein freier Entschluss, etwas Eigenes, etwas, was nur der Mensch für sich entscheiden kann, eine Freiheit, die keiner dieser guten Engel im Himmel für sich in Anspruch nehmen darf, wenn er nicht hinabgestürzt werden möchte?
    Ein unscheinbares Lächeln entspannt sein Gesicht. Er muss daran denken, dass er seinen eigenen Raum geschaffen hat, in dem er das erwachen lässt, das aus dem Himmel gestoßen war.
    Der Impuls, jetzt das Haus zu verlassen, verebbt. Etwas treibt ihn noch einmal zu der Tür, die in den hinteren Teil des Hauses führt, lässt ihn die Klinge herunterdrücken und die Eisentür langsam aufschieben. Den fensterlosen Raum hat er über Monate selbst ausgebaut, die Wände schalldicht verstärkt.
    Er schaltet das Licht an, eine Neonröhre flackert auf. Es gibt nur ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl darin. Sein Blick gleitet über den Boden und die Wände, ohne Eile, erhaben wie der Flug eines Albatros.
    Mehrere Stunden hatte er gebraucht, um hier wieder alles zu säubern. Die Arbeit hatte ihn so erregt, dass er mehrmals innehalten musste und den blutverschmierten Lappen betrachtete, bevor er ihn in den Eimer mit Wasser tauchte.
    Dann waren sie da, die Bilder, nach denen sich seine Fantasie so sehnte. Bilder, die sich real hier abgespielt haben. Er sieht die weit offenen Augen, die Spiegel des Schreckens. Den zusammengepressten Mund, der die Todesangst zerdrücken möchte. Doch es waren seine Hände, die drückten, würgten und sich im richtigen Moment wieder öffneten, die sich Zeit ließen, um den Rausch der Macht voll auszukosten. Am Ende war da nur noch ein abwesender Ausdruck in den Augen, wenn er den Raum betrat.
    Das sind deine Augen, hatte er dann gedacht. Sie hatten den gleichen Ausdruck, wenn Mutter sie gesehen hat, nachdem der verlorene Sohn aufgespürt war, in irgendeinem Fluchtversteck. Augen des Ausgeliefertsein, Augen, die im Voraus sahen, was mit ihm passieren würde. Und der Sohn ließ es über sich ergehen, bekam nie eine Erklärung, welches sein Vergehen war. Der Sohn wurde bestraft, weil er ihr Sohn war.
    Er sieht die riesige, offene Hand, die sich mit einem Ruck bis weit in den Himmel hinaufhob. Der Zorn bildete ein Vakuum, um dann umso heftiger …
    Er löscht das Licht, schließt die Tür, stürzt hastig aus dem Haus. Der Wagen in der Einfahrt glänzt in der sternenklaren Nacht.
    Es wird niemand kommen, der mich verhaften will, denkt er und erinnert sich an die Zeit nach seiner ersten Tat.
    Ungläubig hatte er festgestellt, dass sein Leben genauso weiterging wie bisher. Sie reagierten nicht auf ihn, war ihm nach einigen Wochen klar geworden. Es war, als wäre nie etwas passiert. Eigentlich haben sie ja auch keine Möglichkeit, auf ihn zu kommen. Es gab keine Verbindung von ihm zu den toten Frauen. Selbst wenn sie haufenweise Spuren hätten, könnten sie nichts damit anfangen.
    Er steigt ein, wirft den Motor an, schaltet das Fernlicht an und fährt im Schritttempo am Innendeich entlang. Nach circa 800 Metern passiert er einen großen Bauernhof, der etwas abseits geduckt hinter Bäumen steht. Es brennt kein Licht mehr. Er drückt auf den CD-Player. Mit den drei charakteristischen Oktaven verwandelt die Toccata d-moll von Bach seinen Chrysler Limited in eine Kathedrale. Die folgenden Septakkorde gleiten mit dem Grundton der Orgelmusik am Bogen der Straße entlang, ziehen den Jeep mit sich in die Dunkelheit.
     
    *
     
    »Kollege Richter, können Sie mir hier mal rüberhelfen?« Heinz Püchels Stimme ist bereits in der Ferne zu hören, bevor er leibhaftig sichtbar wird. Die gewohnte Zigarette im Mund, umgeben von Rauchwirbeln, trabt er heran, und Swensen ahnt bereits, was er gleich zu hören bekommen wird: Jetzt muss endlich was passieren.
    »Jetzt muss endlich was passieren, Leute! Dieser Irre muss von der Straße! Ich brauch euch nicht zu sagen, was schon

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