Eidernebel
sich hinter den Zahlen verbirgt.
Er ist schon früh auf den Beinen, duscht zügig und wirft sich in die Klamotten. In der Küche belegt er ein Brot mit Käse, nimmt eine Milch aus dem Kühlschrank und gießt sie in ein großes Glas. Die Milch in der Hand, das Brot zwischen die Zähne geklemmt, marschiert er zu seinem Computer und fährt ihn hoch. Kauend hört er die Windows Erkennungsmelodie: »Dim dim dim … dimdim«. Ungeduldig klickt er sich ins Netz und danach auf die Seite ›Official Global GPS Cache Hunt‹ und weiter zu ›HIDE & SEEK A CACHE‹. Über Germany, Eiderstedt kommt er zum Cache: Staller Fedderkens.
Für das übernächste Ziel hat ›Seefahrer‹ bereits unvollständige Koordinaten angegeben: ›Nord 54º 20.0-- Ost 8º --.1--‹. Die fehlenden Zahlen, so schreibt er in seinem Rätsel, können am nächsten Ziel auf dem Stein-Relief an der äußeren Südwand des Chores und links neben dem Altar gefunden werden. Nord: Das Jahrhundert des Todestages. Ost: Anzahl der Buchstaben des Spruchs auf dem Grabstein + der Monat ihrer Geburt – sowie die Zähne im Unterkiefer des Holtenpeer. Die ermittelten Zahlen vervollständigen die Koordinaten, die zum letzten Cache führen. Um diesen dann vor Ort zu finden, gab es den Tipp, im Dunkeln zu kommen, eine Taschenlampe mitzunehmen und das Zielobjekt abzuleuchten.
Sofort ist Michael Morahts Neugier entfacht, nichts kann ihn jetzt mehr in seiner Wohnung in St. Peter halten. Er muss an den Ort, er will dieses Rätsel lösen, sofort. Das hellgrüne GPS-Gerät liegt auf der Kommode im Flur. 150 Euro hat ihn der ›Garmin Geko 201‹ gekostet. Er gibt die Koordinaten ein, die er beim letzten Ziel in Welt gefunden hat und sitzt keine fünf Minuten später auf seinem Motorroller. Knatternd fährt er durch St. Peter und verlässt das Dorf über den schnurrgeraden Medfeldweg. Kurz bevor er die Bundesstraße 202 erreicht, macht die Straße eine lang gezogene S-Kurve. Dahinter holt er noch einmal alles aus dem Motor heraus. Voll am Limit saust er durch Tating und Garding. Eine Verkehrsinsel kündigt Katharinenheerd an. Michael Moraht stoppt und schaut auf den GPS-Bildschirm. Der Pfeil auf dem Kompass deutet an, dass er sich rechts halten muss.
Es muss ganz in der Nähe sein, denkt er und biegt nach 200 Metern rechts in Richtung Bahnhof ab. Ein erneuter Stopp mit Blick auf den ›Geko‹ bringt ihn zu dem Entschluss, besser den Roller abzustellen und zu Fuß weiterzugehen. Er schließt ihn kurzerhand an dem verzierten Kirchenzaun an. Durch die Pforte führt ein schmaler Plattenweg erst an Ziersträuchern und dann am hölzernen Glockenturm vorbei, direkt auf die kleine Kirchentür zu, die mit grünen Zick-Zack-Ornamenten verziert ist. Es ist nicht abgeschlossen. Alles deutet darauf hin, dass er das Rätsel bald gelöst hat. Er lugt vorsichtig in die Kirche hinein, keine Menschenseele ist zu sehen. Das schlichte Kirchenschiff hat etwas Anheimelndes. Er geht durch die Reihe der Kirchenbänke, die durch Türen in kleine separate Logen getrennt werden. An der Wand neben der Triumphkreuzgruppe hängt eine verschnörkelte Uhr. Anno 1617 liest er auf der unteren Leiste. Der Zeiger, ein goldener Finger, steht auf 17 Uhr. Das Abendmahl vor Augen, betritt er den Chor. Die Farben des Altargemäldes fesseln seinen Blick und er bemerkt erst nach einer Weile das mannshohe Holzpferd, auf dem ein dürrer Mann in Ritterrüstung sitzt.
Das ist das Holtenpeer!
Er schaut sich den Unterkiefer der Holzskulptur an, zählt 15 Zähne, es könnten aber auch 16 sein, eine Stelle ist etwas undeutlich geschnitzt, und schreibt die Zahl auf einen Zettel. Erst auf dem Rückweg fallen ihm die kleinen Bauernmalereien auf, die sich über die Empore ziehen. Beeindruckt verlässt er die Kirche und beschließt, zu Hause im Internet nachzusehen, auf welchen historischen Pfaden er sich gerade befindet. Jetzt drängt es ihn mit aller Macht zu diesem ominösen Steinrelief und er eilt auf die Rückseite des Gebäudes. Die Frau in Eiderstedter Tracht, die darauf frech ihren Rock hebt, um ihre Füße zu zeigen, ist nicht zu übersehen. Am unteren Rand ist der Satz ›Et gah uns wohl op unse olen Dage‹ in den Granit eingemeißelt.
Es geht uns gut auf unsere alten Tage, übersetzt er im Kopf und studiert die darunter eingelassene Grabplatte in der Kirchenmauer: ›Zum Gedächtnis an Martje Flohrs, geboren am 21.4.1689, gestorben am 31.1.1747, das Große, das Reine, die Treue bleibt der Nachwelt
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