Ein abenteuerliches Herz
kommt man in die Feldmark und etwas weiter zu einem Weiher, an dessen Rand ein lebendgroßer Ernst Jünger in Bronze steht, ein Fernglas in der Hand und auf dem Glas ein Insekt.
Die Oberförsterei, das Jüngerhaus, war noch nicht wieder hergerichtet, aber glücklicherweise waren Handwerker bei der Arbeit. Ich sagte, dass ich hier vor fast 50 Jahren Dienst getan habe, und so durften wir hinein. Ja, doch, ich wurde sentimental in den alten Räumen, in denen ich einst immer wieder ein paar Wochen mitgelebt hatte. Und im herbstlichen Garten, in dem sogar noch der Pflaumenbaum stand, den ich 1961 dort gepflanzt hatte, pflückte ich ein Sträußlein noch gerade blühender Astern, um sie auf die Gräber zu legen.
Gleich vorn, wenn man den Friedhof durch das gusseiserne Tor betreten hat, liegt das mit den Jahren gewachsene Familiengrab. Das Grab von Liselotte Jünger, die am 31. August 2010 starb, war noch frisch. Als ich im August 1960 das erste Mal in Wilflingen war, gab es nur den marmornen Grabstein des am 29. November 1944 im Alter von 18 Jahren in den Marmorbrüchen bei Carrara gefallenen Sohnes Ernstl. Beim zweiten Besuch, im Januar 1961, schmückte das Grab von Gretha Jünger, die am Totensonntag 1960 gestorben war, noch erst ein schlichtes Holzkreuz. Seit März 1993 liegt hier auch der zweite Sohn, Alexander, der, schwer erkrankt, sich am 9. März dieses Jahres erschossen hat. Und mitten unter ihnen, gestorben am 17. Februar 1998 im Alter von 103 Jahren, der »Chef«.
ZU MEINER AUSWAHL
Das in 22 Bänden versammelte Gesamtwerk Ernst Jüngers in einem solchen Lesebuch gerecht zu repräsentieren, ist nicht möglich. Es sollte, nicht nur deshalb, aber auch, eine persönliche Auswahl sein. Ich wollte, entweder ganz oder in Auszügen, das aus Jüngers Werk zeigen, was ich nach wie vor für wesentlich und bedeutend halte, auch das, was mich persönlich anrührt.
Gegliedert habe ich diese Auswahl nach Begriffen, die – mit der Ausnahme »Erzähltes« – für Ernst Jüngers Leben und Werk signifikant sind: »Krieg und Frieden« zeigt den Jünger, der durch zwei Weltkriege zum Frieden findet; sein »Abenteuerliches Herz« prägt im Grunde sein ganzes Werk; »Streifzüge« unternahm er in corpore rund um den Planeten, mental durch viele Gebiete geistiger Erfahrungen; und »Geträumtes« durchzieht sein Leben, was vor allem seine Tagebücher belegen.
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Die »Stahlgewitter« bezeugen zum einen Jüngers militärische Formung im Ersten Weltkrieg, aber zunehmend mit den immer wieder bearbeiteten Fassungen auch seinen ästhetischen, seinen starken Form- und bewußten Stilwillen. Deshalb scheint es mir interessant, das erste Kapitel der »Stahlgewitter« auf seinem Weg von der rohen, hier mit allen Fehlern abgedruckten Urfassung der Kriegstagebücher über die Literarisierung in der frühen zweiten Auflage von 1922 bis zur Fassung letzter Hand von 1978 zu zeigen.
Tagebuchnotizen aus den »Gärten und Straßen«, noch 1942 erschienen, und den schon etwas stärker bearbeiteten »Strahlungen« aus dem Jahre 1949 bezeugen Jüngers Haltung im Zweiten Weltkrieg. [Darin: Kniébolo = Hitler]
Die Schrift »Der Friede«, die in ihren Grundzügen im Winter 1941 in Paris entworfen wurde, deren endgültige Fassung im Sommer 1943 entstand, markierte für mich den Jünger, den ich dem Jünger der frühen Schrift »Der Kampf als inneres Erlebnis« von 1922 und des nationalbolschewistischen »Arbeiter« von 1932 trotz ihres etwas antiquarischen Stils vorzog. Sie schien mir schon früh jene behauptete Wende in Jüngers Werk zu bezeugen, von der er selbst nie etwas wissen wollte: »Mein Werk ist eine Einheit.« Weshalb ich meiner ihm zum 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift den Titel »Wandlung und Wiederkehr« gegeben habe. Ausdruck dieser Wende war für mich damals auch »Der Waldgang« von 1951, dessen Lieblingsstelle noch immer ist: »Ein Wunder muss geschehen, wenn man solchen Wirbeln entkommen soll. Und dieses Wunder hat sich unzählige Male vollzogen, nämlich dadurch, dass inmitten der unbelebten Ziffern der Mensch erschien und Hilfe spendete. Das galt bis in die Gefängnisse, ja gerade dort. In jeder Lage und jedem gegenüber kann so der Einzelne zum Nächsten werden – darin verrät sich sein unmittelbarer, sein fürstlicher Zug. Der Ursprung des Adels liegt darin, dass er Schutz gewährte – Schutz gegenüber der Bedrohung durch Untiere und Unholde. Das ist das Kennzeichen der Vornehmen, und es leuchtet noch auf im Wächter,
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