Ein abenteuerliches Herz
damit ich das glauben soll; hinter der nächsten Ecke werfen sie die Ranzen fort.«
Es fällt mir übrigens auf, daß, wenn man ein beliebiges Verhältnis belauscht, wie hier das der Wespen, man zugleich von anderen verborgenen Dingen Kenntnis gewinnt, wie der Jäger auf dem Anstande oder der Soldat auf Vorposten. Der erste erotische Vorgang drängte sich mir auf, als wir als Kinder in einem alten Hause Versteck spielten. Wenn man an einem beliebigen Punkte zu beobachten beginnt, tritt man in eine besondere Beziehung zur Welt überhaupt, und wer ein Geheimnis erfaßt, dem nähern sich, ohne daß er es beabsichtigte, auch viele andere. Auf untergeordneter Stufe trifft das auch für den Erfinder zu; man kann sich dazu nicht entschließen, sondern man wird es, indem man die Position des Erfinders gewinnt. Daher haben Menschen mit solcher Veranlagung oft auf den verschiedensten Gebieten eine glückliche Hand.
An der Zollstation
Überlingen
Der Tod gleicht einem fremden Kontinent, über den niemand berichten wird, der ihn betrat. Seine Geheimnisse beschäftigen uns so stark, daß ihr Schatten den Weg verdunkelt, der dorthin führt – das heißt, wir unterscheiden zwischen dem Tode und dem Sterben nicht scharf genug. Diese Unterscheidung ist insofern von Wert, als vieles, was wir dem Tode zuschreiben, sich bereits im Sterben vollzieht und als unsere Blicke und Vorstellungen in das Zwischenreich zuweilen noch eindringen. Wie fern uns der Tod auch liege, so vermögen wir doch das Klima zu schmecken, das ihn umgibt.
Es gibt Fälle, die auf Messers Schneide stehen und in denen der Mensch den Tod bereits gewahrt wie Klippen, die hinter der nahen Brandung stehen. Dann aber zieht das Leben wieder in ihn ein, wie in einem fast erkalteten Herde die Flamme von neuem erwacht. Solche Fälle gleichen einem falschen Alarm; und wie es Schiffe gibt, auf denen der Kapitän erst bei drohendem Sturm die Brücke betritt, so erscheint hier eine sonst verborgene Instanz und trifft ihre Vorkehrungen. Der Mensch besitzt Fähigkeiten, die er wie eine verschlossene Ordre mit sich führt; er verfügt über sie nicht eher, als er ihrer bedarf. Zu diesen Fähigkeiten gehört, daß er seine Lage erfaßt, und in der Tat ist das der Fall – nach einem Augenblick der Verblüffung geht der Annäherung des Todes Erkenntnis voraus.
Während wir ihm die Stirne kühlen, ist der Sterbende bereits unendlich von uns entfernt – er weilt in Landschaften, die sich eröffnen, nachdem der Geist den flammenden Vorhang des Schmerzes durchschritten hat. Zeit und Raum als die beiden Keimblätter, zwischen denen das Leben erblüht, falten sich wieder ein, und in diesem Dahinschwinden der Bedingungen fällt dem inneren Auge eine neue Art der Anschauung zu. Nun erscheint ihm das Leben in einem neuen Sinn, ferner und deutlicher als sonst. Es wird übersichtlich wie ein Gebiet auf der Landkarte, und seine Entwicklung, die sich über viele Jahre erstreckte, ist in ihrem Kern zu erblicken wie die Linien der Hand. Der Mensch erfaßt seinen Wandel in der Perspektive des Notwendigen, zum ersten Male ohne Schatten und Licht. Auch tauchen weniger die Bilder wieder auf als die Essenz ihrer Inhalte – als ob nach einer Oper bei schon gefallenem Vorhang noch einmal im leeren Raume von einem unsichtbaren Orchester das Grundmotiv gespielt würde, einsam, tragisch, stolz und mit einer tödlichen Bedeutsamkeit. Er erfaßt eine neue Art, sein Leben zu lieben – ohne Erhaltungstrieb; und seine Gedanken gewinnen Souveränität, indem sie sich der Furcht entwinden, die alle Begriffe, alle Urteile trübt und beschwert.
Bereits hier entscheidet sich die Frage der Unsterblichkeit, die den Geist im Leben so ungemein beunruhigte. Das Außerordentliche der Lösung liegt darin, daß der Sterbende einen Punkt erreicht, an dem er wie von einem Grat die Landschaft des Lebens und des Todes überblickt – und er gewinnt vollkommene Sicherheit, indem er sich sowohl in der einen als in der anderen gewahrt. Er erfährt einen Aufenthalt, wie vor einer einsamen Zollstation im höchsten Gebirge, wo ihm die Scheidemünze der Erinnerung in Gold gewechselt wird. Sein Bewußtsein reicht vor wie ein Licht, bei dessen Schein er erkennt, daß man ihn nicht hintergeht, sondern daß er Furcht gegen Sicherheit vertauscht.
In dieser Spanne, die zugleich zur Zeit und auch schon nicht mehr zur Zeit gehört, darf man auch die Bezirke vermuten, die von den Kulten als die Purgatorien geschildert sind. Es ist der
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