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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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nächtliche Tiefe. Beim Betrachten dieser weit hingebreiteten Schönheit kamen ihm wieder ruhigere Gedanken, all die Nichtigkeiten fielen von ihm ab … Was hatte er für Laura Lou tun können? Was hatte sie für ihn getan? Das Band zwischen ihnen war so schnell zur Gewohnheit geworden, zu gegenseitiger Duldung, mehr nicht. Vielleicht war sich auch Laura Lou dessen bewusst geworden, vielleicht hatte auch sie sich wund gescheuert und nach Freiheit gesehnt oder einfach nach Sorglosigkeit, materiellem Wohlergehen, einem eigenen Zuhause – all dem, was er ihr niemals geben konnte. Seine Augen füllten sich mit Tränen … Was hinderte sie beide, es noch einmal zu versuchen?
    Er fand keine Antwort auf diese Frage. Er wusste keinen Grund, warum Verheiratete sich nicht einvernehmlich trennen und, wenn sie wollten, ihr Leben von vorn beginnen sollten, nur … für ihn und Laura Lou konnte er sich das nicht vorstellen. Wenn er es versuchte, war ihm, als wänden sich Millionen zarter Ranken, derer er sich in ihrer Gegenwart nicht bewusst war, um sein Herz und bänden es mit einer seltsamen Fessel, enger als Liebe oder Verlangen, fest an das ihre. Eine Ewigkeit lag er da und versuchte dieses Rätsel zu lösen, aber vergebens. Am Ende kam er zu dem Schluss:«Natürlich, wenn sie wirklich frei sein will, soll sie frei sein», und für Sekunden flammte in seiner Seele das neu entfachte Feuer aussichtsreicher Möglichkeiten auf… Danach fiel er auf seinem Felsen erschöpft in den Schlaf.

    Es war heller Tag, als er erwachte; alles tat ihm weh, und er hatte Hunger. Seine Uhr war stehen geblieben, aber nach dem Sonnenstand musste es schon nach acht Uhr sein. Als Erstes verlangte es ihn wie einen ausgehungerten Jungen nach einer Tasse von Mrs Tracys heißem Kaffee. Wozu eigentlich das ganze Theater? Wie anders sahen die Dinge bei Tageslicht aus, wenn dieselbe alte Sonne auf dieselben alten, alltäglichen Pflichten schien. Es gab die Redaktion, es gab seine Frau, und – halleluja! – es gab seine Arbeit! Er sprang von Fels zu Fels hinunter, erreichte die Straße und lief nach Hause.
    Vor Mrs Tracys Tür angelangt, rannte er die Stufen hinauf und rief laut Laura Lous Namen. Wie unsinnig ihm nun diese pathetische Szene von gestern Abend vorkam! Doch zu seiner Verwunderung war die Tür versperrt. Er rief noch einmal, rüttelte an der Klinke, schlug gegen die Türfüllung – aber niemand reagierte. Er marschierte ums Haus herum nach hinten und rechnete damit, seine Schwiegermutter zwischen den Johannisbeersträuchern zu finden.«Laura Lou schläft wahrscheinlich immer noch fest?», würde er scherzend beginnen. Aber auch zwischen den Gemüsebeeten war niemand, und die Tür der hinteren Veranda war ebenfalls zugesperrt. Vance trat zurück, warf eine Handvoll Kieselsteine ans Fenster seiner Frau und rief wieder nach ihr. Wieder kam keine Antwort.
    Er ging zurück zur Haustür, rüttelte und klopfte ergebnislos, setzte sich schließlich entmutigt auf die Schwelle und wunderte sich.
    Den ganzen Weg bergab hatten sich ihm versöhnliche Sätze, Scherze und liebevolle Worte aufgedrängt – alles, um den Weg zurück ins alte Leben zu ebnen. Und nun stand er vor diesem schweigsamen, feindseligen Haus, das offenbar nichts von ihm wissen wollte, sondern ihn aus leeren, abweisenden Fenstern anstarrte wie einen Eindringling.
    War er das womöglich schon, ein Eindringling? Himmel noch mal, nein! Sein schwelender Zorn gegen Mrs Tracy flammte wieder auf. Das war alles ihre Schuld. Sie würde nicht ruhen, bis sie ihn von Laura Lou getrennt hatte … Langsam packte ihn die Angst vor dem schweigsamen Haus und dem Unbekannten dahinter. Er sah den Nachbarssohn die Straße entlangschlendern, stand auf und winkte ihn herbei.«Hör mal – ich bin gerade heimgekommen und habe mich offenbar ausgesperrt. Hast du mein Weibsvolk irgendwo gesehen?», fragte er launig.
    Ja, sagte der Junge, vorn auf der Straße. Sie versuchten gerade, Dixons Gespann auszuleihen, um zum Bahnhof zu fahren, wahrscheinlich wollten sie Gepäck mitnehmen, für länger … Er grinste und schlurfte weiter, und Vance stand da und blickte ihm reglos nach. Also war alles im Voraus geplant; sie fuhren in die Stadt, geradewegs zu Bunty Hayes, kein Zweifel! Er hatte schon Zimmer für sie bestellt, wo sie wohnen konnten, bis sie nach Kalifornien aufbrachen …
    Vance ging wie in Trance zurück zur Veranda. Dann stimmte es also – es war wirklich passiert, dieses immer noch Unbegreifliche. Er

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