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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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stand da und blickte um sich wie eben aus dem Schlaf erwacht, und da bemerkte er in einer Ecke der Veranda einen Koffer und ein paar lose verschnürte Bündel. Sie hatten also schon gepackt, sie würden gleich zurückkommen und ihre Habseligkeiten abholen.
    Es war alles so seltsam und überdeutlich wie in einem Albtraum. Gestern früh noch war dieses Gebäude sein und Laura Lous Zuhause gewesen – jetzt war es verschlossen und leer und hatte nichts mehr mit ihnen zu tun. Diese Phase ihres Daseins war vorüber … Sein Blick fiel zufällig auf den Koffer, es war derselbe, der ihn und Laura Lou in die Flitterwochen begleitet hatte. Er setzte sich daneben auf den Verandaboden und erinnerte sich, wie er ihn am Strand ausgepackt und das klebrige, fetttriefende Hochzeitsfrühstück hervorgezogen hatte. Und wie Laura Lou zum ersten Mal Champagner getrunken hatte, aus einer Muschel! Auch er hatte ihn zum ersten Mal gekostet – nur hatte er sich abgewöhnt, daran zu denken …
    Seine Augen wurden feucht, und ihn packte plötzlich das jungenhafte Verlangen, etwas zu sehen und zu berühren, was ihr gehörte. Ihm schien, dass sie sich in Wirklichkeit schon vor langer Zeit getrennt hatten, dass das lachende Kind, das ihm geholfen hatte, den Imbiss aus diesem Koffer zu holen, seit Monaten weiter von ihm entfernt war als Paul’s Landing von Kalifornien. Er hatte das nicht beabsichtigt, hatte es nicht wahrgenommen – aber nun kam ihm der Gedanke, dass für Laura Lou der Knoten vielleicht schon lange gelöst war, dass der anonyme Brief ein längst erwarteter, vielleicht provozierter Vorwand war. Bei diesem Gedanken beschlich ihn das Gefühl, sie körperlich zu spüren, es war eindringlich und stark wie der Duft eines Gartens im Juni. Vance beugte sich über den Koffer, und ohne recht zu wissen, was er tat, drückte er das Schloss auf und hob den Deckel. Laura Lous armselige, dürftige Habe war achtlos und eilends hineingestopft worden, und obendrauf, platt gedrückt und zerbrochen, lag die alte ausgestopfte Taube von dem vergoldeten Korb, den er ihrer Mutter geschickt hatte.
    Der Anblick schnürte ihm die Luft ab. Er kniete lange davor und umfasste den schlaffen, mottenzerfressenen Vogel mit beiden Händen. Er hatte seit Ewigkeiten nicht mehr an ihn gedacht – aber er entsann sich nun, dass sie ihn mit Draht über dem kleinen Spiegel auf ihrer Kommode befestigt hatte. Dort hatte er, ein wenig krumm und flügellahm, seit der Hochzeitsreise gehangen.
    Er hatte den Vogel kaum wahrgenommen, Laura Lou jedoch hatte trotz aller Eile und allen Abschiedswehs daran gedacht, ihn von seiner Stange zu lösen und in den überquellenden Koffer zu stopfen.«Aber wenn sie so empfindet, warum geht sie dann?»Der Gedanke überkam ihn wie ein warmer Platzregen im Frühling, besänftigend und belebend. Jetzt, mit der alten ausgestopften Taube in der Hand, fürchtete er nichts mehr! Er stand auf und drückte den Vogel an sich, und in dem Augenblick kamen die Räder von Dixons Fuhrwerk vor dem Tor zum Stehen.

SECHSTER TEIL

32
    « Unter dem schwindenden Mond von Pondicherry stach die kleine Flotte in See …» 74
    Vance saß in seine Vision versunken da. Der Satz summte ihm schon den ganzen Tag im Kopf herum. Pondicherry – wo war das? Er wusste es nicht. Erinnerungen aus Kinofilmen formten sich zu einer unbestimmt exotischen Szene: Palmen, Häuser mit Arkaden, dunkelhäutige Frauen mit Körben voll tropischer Früchte. Aber eindringlicher als dieses oberflächliche, durch Filme entwertete Bild sah er das wahre Pondicherry vor sich, sein Pondicherry, wie eine Fata Morgana, fern, kostbar und unbefleckt … Pondicherry! Was für ein Name! Seine magischen Silben bargen den Gegenstand seiner nächsten Erzählung, wie Blütenblätter sich über der werdenden Frucht wölben … Er sah einen Hafen vor sich, erleuchtet von einem schweren roten Mond, die staubigen Pflastersteine am Kai, ein kleines, blauweißes Haus mit einer Terrasse über dem Wasser …
    « Vance Weston – wach auf, um Himmels willen! Schau nicht so, als würdest du versuchen, in eine Zapfsäule hineinzuhorchen …»
    Er nahm sich zusammen und stellte sich der Tatsache, dass er in Rebecca Strams Atelier auf einem wackeligen Podest saß, zur Seite geneigt in der Haltung, zu der ihn die Bildhauerin verurteilt hatte.«Ich muss eingeschlafen sein», murmelte er.
    Das Atelier war eine Mansarde, bewusst kahl und unaufgeräumt. Irgendjemand hatte angefangen, die nackten Wände mit Karten der

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