Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
sich in den Rinnen zum Verfaulen bereitmachten. Ich stieß mit dem Rechenstiel nach ihnen, und danach wurde es etwas besser mit dem Wasserfall.
    Das Knarren der Treppe hingegen war nicht abzustellen. Wenn Papa gelegentlich mitten in der Nacht aus dem Atelier herunterschlich, um die Formel für Salpetersäure oder Beschlüsse des Konzils zu Konstanz im Lexikon nachzuschlagen, dann wachte Mama auf und konnte lange nicht wieder einschlafen.
    Daß das neue Zimmer aus Backstein gebaut war und etwas tiefer lag, erwies sich als Nachteil. Von einem «gemütlichen, stabilen, warmen Raum» konnte gar keine Rede sein. Der Rest des Hauses war viel wärmer. Der Inhalt von Mamas Kommoden bekam einen stockigen Geruch und das Zimmer behielt etwas Kelleriges und Unfrohes.
    «Wenn wir das Große Los gewinnen», schrieb Leo aus Serbien auf unsere brieflichen Klagen, «dann reißen wir den Boden heraus und legen Heraklit drunter. Im übrigen komme ich im August, um mich von dem eingetretenen Edelmurks selbst zu überzeugen.»
    Die hintere Küchentür hatte eine Art, einem mit der Klinke heimtückisch den Daumen zu klemmen, die ich noch bei keinem anderen Hause gefunden hatte, und außerdem ließ sie den von Nordwesten heranpeitschenden Regen freudig ein. Unter der Tür pflegten sich kleine Rinnsale zu bilden und durch die Klappe in den an sich schon feuchten Keller zu tropfen. Wir hätten damals mit der Aufzucht von Lurchen und Aquarienzubehör unsere Einkünfte wesentlich verbessern können.
    Statt dessen entschlossen wir uns, ein Vordach vor die Küche anbringen zu lassen, das nicht nur den Regen bis zu einem gewissen Grade abhalten, sondern Mamas stolzem Ausdruck «Hof» nachträglich Berechtigung verleihen sollte. Das Vordach wurde angebracht, und beim ersten Regen lief die ganze Familie begeistert trockenen Fußes zum Schuppen und zurück. Die Küche hatte sich sehr verdunkelt, selbst das Fensterchen des Speiseschrankes lag jetzt trocken und damit finster, aber man konnte ja Licht anzünden, wenn man den Suppenwürfel ganz rechts hinten suchte. Bei heftigerem Regen jedoch, vor allem bei jenen Güssen, wie ein italienisches Tief sie uns mit Regelmäßigkeit bescherte, sammelte sich der Regen auf dem Vordach und wartete, bis jemand die Küchentür öffnete. Dort, wo das Vordach ans Haus stieß, schien sich trotz des vorausberechneten Neigungswinkels eine Schleuse zu bilden, durch die einem dann gleich größere Wassermengen in den Halskragen fluteten. Dienstag, den 5. August, telegrafierte mein Bruder Leo: Donnerstag abend Grießpudding. Wir bezogen sein Bett und legten ihm zwei neue Kriminalromane auf den Nachttisch.
    Donnerstag mittag wurde es so dunkel, daß man den Weltuntergang nahe glaubte. Am Schreibtisch in meinem Dachkämmerlein konnte ich nur noch bei künstlichem Licht lesen. Ulf seufzte auf der Veranda, setzte sich mit zurückgelegten Ohren auf dem Fußabstreifer zurecht und blickte in den Garten hinaus.
    Papa rief mich in die obere Mansarde und zeigte nach Westen. «Siehst du die blaue Wurst mit dem hellen Rand da am Himmel?» fragte er und zeichnete sie nach. «Das ist Hagel.»
    «Was soll ich mit den Tomaten hinterm Haus machen?»
    «Tomatenpüree», sagte Papa ahnungsvoll. In diesem Augenblick wurde es ganz still, nur auf der anderen Seite des Sees begann ein helles Klirren. Im Nu verwandelten sich die ruhigen, freundlichen Uferbäume in zerraufte alte Schachteln mit Federboa und Riesenhut. Papierknäuel und Heubüschel tanzten und sprangen über die Wiesen auf uns zu. Eines von den Knäueln war die Miezi, die in Riesensätzen machte, daß sie heimkam. Dann trafen die ersten Sturmböen das Haus. Der See wurde lehmgelb und warf drohende Brecher auf. Die Bäume bogen sich, und hie und da flog ein gewaltiger Ast an uns vorüber, dem ich nicht hätte allein im Dunkeln begegnen mögen. Dann übertönte der Hagel auf unserem Schindeldach alles andere. Brüllend verständigten wir uns darüber, daß die kleine Birke am Wege wie ein Streichholz abgeknickt sei, und zwar genau dort, wo der Draht befestigt war, der sie stützen sollte. Als der Himmel aufhörte, mit Steinen zu werfen, war es draußen weiß, als hätte es geschneit. Das Haus zitterte noch immer und war von einem seltsamen Dröhnen erfüllt, das von oben zu kommen schien. Anna der Igel trat ein und teilte uns mit, daß sie es für ein Erdbeben hielte. Sie war noch schwerer zu verstehen als sonst, weil sie beim Sprechen ständig tief einatmete. Das Dröhnen nahm zu

Weitere Kostenlose Bücher