Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
nur das - in hauchdünne Scheiben geschnitten und auf der Brühe schwimmend, wo es sich wie zarter Schmelz fast schon aufzulösen scheint. Manche Puristen wiederum bestehen auf rohem Rindfleisch, das, in genau der richtigen Stärke geschnitten,
in allerletzter Minute, kurz vor dem Servieren, der Brühe zugegeben wird, sodass es der Gast in der heißen Brühe »garen« kann, indem er es sanft mit den Nudeln rührt. Wie viele Einheimische mag ich am liebsten eine Mischung aus rohem und gegartem Fleisch. Sehniges Fleisch klingt reizlos, ist aber, wenn es von einem Pho-Meisterkoch zubereitet wird, das beste Fleisch der Welt, sogar für die noch nicht Eingeweihten. Die Sehnen sind durchaus nicht zäh oder hart, wie man es erwarten würde, sondern haben genau den richtigen Biss, bieten genau den richtigen Widerstand und lösen sich nach wenigen Bissen fettig und knochenmark-ähnlich auf - ein Kontrast zum feinen, aber allzu kurzen Genuss von Rindfleisch. Meistens sind nur wenige der schmalen, durchscheinenden Röhrchen in der Schale, und wenn man sie nur ungern auf seinem Löffel entdeckt, macht der Koch was falsch.
Pho wird am Tisch vollendet, und anders als bei vielen ähnlichen Gerichten, die jeder irgendwie anders handhabt, scheint es dafür in Hanoi eine Art Orthodoxie zu geben. Ein, zwei Tupfer Chilipaste, ein Hauch Chilisauce, ein großzügiger Spritzer Zitrone, leicht verrühren mit den Essstäbchen in der rechten Hand und dem Löffel in der Linken. Das Ideal ist die perfekte Vermählung von Rindfleisch, Brühe und Nudeln, mit jedem Löffel, den man isst. Schlürfen ist erlaubt. Ebenso wie sich über die Schale beugen. Oder die Schale zum Mund führen.
Neben der Schale Pho steht dann ein großzügig gefüllter Teller oder Korb mit Kräutern und Sprossen - Horapa, Minze und Koriander -, und man fügt nach Bedarf Frische, Biss und bittere Aromen hinzu, kann aber auch nach Belieben
das eine oder andere Blättchen als Gaumenreiniger in den Mund schieben.
Übrigens bin ich dieser Sache durchaus kein Experte, sondern lediglich Liebhaber. Doch das alles habe ich über die Jahre beobachtet und mir berichten lassen. Völlig unbestreitbar ist, dass in einer perfekten Schale Hanoi-Pho ein Gleichgewicht aus Pikantem, Süßem, Saurem, Scharfem, Salzigen und sogar Umami herrscht sowie eine sanfte Mischung aus verschiedenen Konsistenzen: weich und nachgiebig, feucht und glitschig, knackig und vorübergehend ledrig, dann aber fast schmelzend, leicht und schwer, bissfest und biegsam, knusprig und zart. Ein Hauch, kaum spürbar. Wem das noch nicht ausreicht, um der eigenen Großmutter ein rostiges Steakmesser an die Kehle zu setzen, ihr Konto zu leeren und sich auf den Weg nach Hanoi zu machen, der werfe noch einen Blick auf die Farben: leuchtend rote Chilis, die etwas dezentere, dunkelrote Paste aus geröstetem Chili, sattgrünes Gemüse, weiße Sprossen. Rosarotes rohes Fleisch, das beim Garen in der Schale langsam grau wird, die dunklen Brauntöne des garen Fleisches, weiße Nudeln, hell bernsteinfarbene Brühe. So gut wie alle Farben der Natur in einer Schale.
Es ist eine raffinierte, trügerische und hintergründige Sache, das Pho in Hanoi. Ich will nicht so tun, als könnte ich seine zeitlose Schönheit zur Gänze erfassen und würdigen. Pho lässt sich wohl besser mit Liebe als mit Sex beschreiben, denn wir haben, glaube ich, in diesem Leben schlicht zu wenig Zeit, als dass wir es je vollständig durchschauen könnten. Es ist eine bedingungslose Liebe insofern, als es egal ist, wo man sie genießt: wenige Schritte von einer schmuddeligen
Straßenecke entfernt oder an der durchgestylten Theke einer protzigen Lounge. Es enthält, wie es bei Whitman heißt, »Vielheiten«.
Manchmal denke ich, ich solle mich schämen, so etwas zu schreiben.
Das ist Pornografie. Küchen- und Reisepornografie, aber trotzdem.
Ich hatte es, ich lebte es - und die meisten Menschen, die diese Zeilen lesen, hatten es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.
Manche Erfahrungen mitzuteilen erscheint mir unhöflich. Auch wenn es schwer zu glauben ist, haben mir meine Eltern doch beigebracht, dass sich Angeberei nicht gehört, dass sie allgemein ein Ausdruck schlechter Manieren ist. (Ich behaupte nicht, dass sich diese Werte festgesetzt haben, sondern nur, dass man sie mir nahebrachte.)
Manches, was ich gesehen habe, manche Erfahrungen, die ich an Esstischen und Theken rund um den Erdball gemacht habe, kann ich nicht reinen Gewissens
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