Ein Blatt Liebe
sich mit dem Neffen an der Erde. Aber Lucien wehrte sich, er
wollte nicht aufgehoben sein. Sie zerrte ihn endlich hoch und hielt
ihn unter den Armen.
»Sei doch still, Schreihals! Komm, wir wollen schaukeln.«
Sogleich war Lucien still. Jeanne verlor ihre Ernsthaftigkeit,
und strahlende Freude erhellte ihr Gesicht. Alle drei liefen zur
Schaukel. Pauline setzte sich hinein.
»Gebt mir einen Schubs!«
Sie stießen das große Mädchen mit der ganzen Kraft ihrer
Ärmchen, brachten sie aber kaum vom Fleck.
»So stoßt doch!« kommandierte Pauline. »Ach, die Dummerchen,
verstehen auch rein gar nichts!«
Frau Deberle begann im Pavillon zu frösteln. Sie fand, daß es
gar nicht warm sei trotz des schönen Sonnenscheins. Sie hatte
Malignon gebeten, ihr einen Kaschmirmantel zu reichen, den ihr der
junge Mann jetzt über die Schultern legte.
Sie plauderten dabei von Sachen, die Helene wenig interessierten.
Auch hatte sie Furcht, Pauline möchte die Kinder umwerfen. So ging
sie in den Garten und ließ Juliette und Malignon beim Plaudern über
eine neue Hutmode allein.
Als Jeanne die Mutter sah, kam sie mit einschmeichelnder Gebärde
gelaufen.
»0 Mama,« sagte sie leise, »o Mama!«
»Nein, nein,« antwortete Helene, »du weißt, es ist dir
verboten!«
Jeanne schaukelte fürs Leben gern. Es wäre ihr, sagte sie, als
sei sie ein Vogel. Der Zugwind, das jähe Auffliegen, das
fortwährende Herauf und Hinunter, taktmäßig wie Flügelschlag, gab
ihr die köstliche Empfindung eines Aufstiegs in die Wolken. Bloß
nahm es immer ein schlimmes Ende. Einmal hatte man sie ohnmächtig,
an die Seile der Schaukel geklammert, mit aufgerissenen Augen ins
Leere stierend, gefunden. Ein anderes Mal war sie starr wie eine
vom Schrot getroffene Schwalbe heruntergefallen.
»O Mama!« bat sie wieder, »bloß ein bißchen, ein ganz kleines
bißchen!«
Ihre Mutter setzte sie schließlich auf das Brett. Das Kind
strahlte, und ein leichtes genüßliches Beben schüttelte ihre
Handgelenke. Und als Helene sie sachte schaukelte, jauchzte das
Kind:
»Stärker! stärker!«
Aber Helene ließ das Seil nicht los. Sie wurde selbst lebendig,
und ihre Wangen glühten. Die Stöße, die sie dem Schaukelbrett gab,
setzten sie selbst in Schwung. Ihre gewohnte Würde verschmolz zu
einer Art Kameradschaft mit ihrem Kind:
»Jetzt ist's genug!« erklärte sie, Jeanne
heraushebend.
»Nun schaukle dich, bitte, schaukle dich!« sagte das Kind, sich
an ihren Hals hängend.
Sie liebte es, ihre Mutter »fliegen« zu sehen. Ihrem Schaukeln
zuzusehen machte Jeanne mehr Freude, als es selbst zu tun. Helene
fragte lachend, wer ihr Schwung geben solle. Wenn sie selbst
spielte, machte sie Ernst und schwang bis in die Bäume. In diesem
Augenblick kam, vom Pförtner geleitet, Herr Rambaud. Er hatte Frau
Deberle bei Helene getroffen und glaubte ihr einen Besuch machen zu
dürfen. Frau Deberle zeigte sich, von der Leutseligkeit des
ehrenhaften Herrn gerührt, überaus liebenswürdig. Dann vertiefte
sie sich neuerdings in eine lebhafte Unterhaltung mit Malignon.
»Unser lieber Freund wird dir Schwung geben!« rief Jeanne, die
Mutter umspringend.
»Willst du wohl still sein! Wir sind doch hier nicht zu Hause!«
sagte Helene streng.
»Du lieber Gott!« flüsterte Herr Rambaud, »wenn Ihnen das Spaß
macht, stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wenn man auf dem Lande
ist … «
Helene ließ sich bereden. Als junges Mädchen hatte sie
stundenlang geschaukelt, und die Erinnerung an diese alten
Vergnügungen erfüllte sie mit einem dumpfen Verlangen. Lachend bat
sie, da sie ihre Beine doch nicht gut zeigen könne, um eine Schnur,
mit der sie ihre Röcke um die Knöchel festband. Dann stellte sie
sich, mit gespreizten Armen die Seile festhaltend, aufs Brett und
rief lustig:
»Vorwärts denn, Herr Rambaud! Zuerst langsam!«
Herr Rambaud hatte seinen Hut an einen Zweig gehängt. Sein
breites freundliches Gesicht erhellte ein väterliches Lächeln. Er überzeugte sich von der Festigkeit der
Seile, sah zu den Bäumen hinauf und entschloß sich, der Schaukel
einen schwachen Stoß zu geben. Helene hatte zum ersten Male die
Trauerkleidung abgelegt. Sie trug ein graues, mit gelben Schleifen
besetztes Kleid.
»Vorwärts, vorwärts!«
Mit vorgestreckten Armen das Schaukelbrett fassend, versetzte
ihm Herr Rambaud einen kräftigen Stoß. Helene begann zu steigen;
mit jedem Aufflug gewann sie größern Schwung. Aber der Takt
bewahrte Würde. Man sah sie noch immer korrekt, ein wenig
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