Ein Blatt Liebe
totenblaß vom nächtlichen Alpdruck, hatte sich Helene
sehr spät erhoben. Sie suchte in der Tasche ihres Kleides, fühlte
den Brief, steckte ihn wieder ein und
setzte sich schweigend vor ihr Tischchen ans Fenster. Auch Jeanne
hatte Kopfweh, war verdrießlich und unruhig. Sie mochte noch nicht
aufstehen und hatte an diesem Morgen zum Spielen keine rechte Lust.
Der Himmel war bleigrau, und ein fahles Licht verdüsterte das
Zimmer, während jähe Windstöße von Zeit zu Zeit gegen die Scheiben
drückten.
»Bist du krank, Jeanne?«
»Nein, Mama, es ist bloß der garstige Himmel.«
Helene versank wieder in ihr Stillschweigen. Sie trank zerstreut
ihren Kaffee und starrte ins Kaminfeuer. Dann erhob sie sich. Sie
hatte sich zu ihrer Pflicht entschlossen, mit Juliette zu reden und
sie zum Verzicht auf das Stelldichein mit Malignon zu bewegen. Über
das Wie war sie sich noch nicht klar, nur war ihr die Notwendigkeit
dieses Ganges zur Gewißheit geworden.
Als es zehn Uhr schlug, kleidete sie sich an. Jeanne wandte
keinen Blick von ihr. Als das Kind sah, daß die Mutter nach dem Hut
griff, preßte sie die kleinen Finger zusammen, und ein Schatten von
Schmerz stand auf ihrem Gesichte. Stets zeigte sich Jeanne auf die
Ausgänge der Mütter eifersüchtig.
»Rosalie, sieh zu, daß du recht bald mit den Zimmern in Ordnung
kommst… Ich bin gleich wieder da.«
Dann umarmte sie Jeanne flüchtig, ohne ihren Kummer zu sehen.
Als sie aus dem Zimmer war, tat das Kind, das sich bisher
zusammengenommen hatte, einen tiefen Seufzer.
»Oh, das ist gar nicht schön, Fräulein,« suchte das
Dienstmädchen in seiner Art zu trösten. »0 weh, o weh, man wird
Ihnen die Mama nicht stehlen… Immer können Sie doch nicht an ihren
Röcken hängen!«
Helene war in die Rue Vineuse eingebogen und
hielt sich an den Hauswänden, sich gegen den Regensturm zu
schützen.
Pierre öffnete, schien aber recht verlegen.
»Ist Frau Deberle zu Hause?«
»Ja, Madame, ich weiß bloß nicht recht… «
Als Helene in den Salon gehen wollte, erlaubte er sich, ihr in
den Weg zu treten.
»Warten Sie, Madame, ich will einmal nachsehen.«
Der Diener öffnete die Tür einen Spalt, und schon hörte man
Juliette ärgerlich rufen:
»Wie! Sie haben doch jemand vorgelassen? Ich hatte es doch
ausdrücklich verboten! Keine Minute kann man ungestört sein.«
Helene stieß die Tür auf, entschlossen, die Pflicht, die sie vor
sich sah, zu erfüllen.
»Ah, Sie sind's… Ich hatte falsch verstanden,« entschuldigte
sich Juliette, doch war ihr der Besuch augenscheinlich lästig.
»Störe ich?«
»Nein, nein, Sie werden sogleich alles verstehen, meine Liebe.
Wir bereiten eine Überraschung für meinen nächsten
Gesellschaftsmittwoch vor. Wir proben nämlich ›Laune‹. Wir hatten
gerade diesen Morgen gewählt… oh, bleiben Sie doch nur. Sie werden
ja nichts ausplaudern.«
Dann klatschte sie in die Hände und wandte sich an Frau
Berthier, die mitten im Salon stand und sich nicht einmal nach der
Besucherin umgesehen hatte. Ohne sich weiter um Helene zu kümmern,
gab sie ihre Anweisungen:
»Bitte noch einmal! Sie dürfen den Satz ›heimlich sparen, ohne
daß der Mann es weiß‹ nicht so stark betonen. Bitte diesen Satz
noch einmal!« Helene hatte aufs höchste
erstaunt im Hintergrund Platz genommen. Sie hatte eigentlich einen
ganz anderen Auftritt erwartet. Sie hatte geglaubt, Juliette
nervös, zitternd und zagend bei dem Gedanken an das Stelldichein zu
finden. Sie hatte sich selbst schon gesehen, wie sie die Freundin
beschwor, alles noch einmal gut zu bedenken, und diese würde sich
dann ihr mit ersticktem Schluchzen in die Arme werfen. Dann würden
sie zusammen geweint haben und Helene mit dem Gedanken gegangen
sein, daß Henri nun endgültig für sie selbst verloren sei, sie aber
sein' Eheglück gefestigt habe. Und nun nichts von alledem! Jetzt
war sie in eine Theaterprobe, von der sie nichts verstand,
hineingeschneit. Juliette war innerlich gänzlich ruhig, wohl
ausgeschlafen und konnte sich nun über eine Schauspielergeste mit
Frau Berthier herumstreiten… . Diese Gleichgültigkeit, dieser
Leichtsinn trafen Helene wie ein kalter Wasserstrahl, sie, die noch
soeben glühend vor Leidenschaft dieses Zimmer betreten hatte.
»Wer spielt den Chavigny?« warf sie hin, um etwas zu sagen.
Juliette wandte sich verwundert um.
»Natürlich Malignon… . Er hat den Chavigny doch den ganzen
letzten Winter gespielt… . Aber man kann den garstigen Kerl ja
niemals zu einer
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