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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Stiefelspitze
den Schutt zurück, als er die Dienstbotentreppe betrat. Die Türen
hatten sich indessen geschlossen.
    Helene war in der Mitte des kleinen Salons, stehengeblieben und
lauschte. Um sie stand tiefes Schweigen. Nur die Buchenscheite
knisterten im Kamin. Die Ohren brausten ihr, sie hörte nichts. Nach
wenigen Minuten, die sie eine Ewigkeit dünkten, rasselte plötzlich
ein Wagen. Es war die anfahrende Droschke Juliettes. Helene seufzte
erleichtert auf. Der Gedanke, keine niedrige Handlung begangen zu
haben, erfüllte ihr Gewissen mit Ruhe und unbestimmter Dankbarkeit.
Nach der fürchterlichen Krise, die sie soeben durchlebt hatte,
fühlte sie sich plötzlich schwach und nicht imstande, sich zu
entfernen. Ihr einziger Wunsch war, daß jetzt Henri kommen
möchte.
    Es klopfte, und sie öffnete sogleich. Henri trat ein, noch immer mit jenem verhängnisvollen
Billett ohne Unterschrift beschäftigt, das er soeben erhalten
hatte. Als er Helenes ansichtig wurde, entfuhr ihm ein Laut der
Überraschung.
    »Wie! … Um Gottes willen, Sie waren das also!«
    In diesen Worten lag mehr noch als die Freude das Entsetzen. Er
hatte nicht allzusehr auf dies mit so viel Kühnheit gewährte
Stelldichein gebaut. Nun überwältigten ihn die Gefühle.
    »Sie lieben mich! Sie lieben mich! … Sie also sind's …
und ich … oh, ich habe das alles falsch verstanden!«
    Er öffnete weit die Arme und wollte sie umfassen. Helene wich
leichenblaß zurück. Zweifellos erwartete sie ihn. Helene hatte sich
gedacht, daß sie nun eine Weile zusammen plaudern würden und sie
sich irgend etwas ausdenken könnte. Plötzlich wurde ihr die
Situation klar. Henri glaubte also an ein Stelldichein, das sie
niemals gewollt hatte …
    »Henri, ich bitte Sie flehentlich … lassen Sie mich!« Er
zog sie langsam an sich, gewillt, sie mit einem einzigen Kusse zu
besiegen. Die durch Monate künstlich eingeschläferte Liebe brach
jetzt, da er begann, Helene zu vergessen, nur um so gewaltiger
durch. Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, und sie wehrte
sich angesichts dieses flammenden Antlitzes, das sie kannte und
erschreckte.
    »Lassen Sie mich, ich habe Angst vor Ihnen. Ich schwöre, alles
ist ein Irrtum.«
    »Aber Sie haben mir doch geschrieben?« fragte der Doktor
befremdet.
    Was sollte sie sagen, was ihm antworten?
    »Ja!« flüsterte sie endlich. Sie konnte
doch Juliette, die sie soeben gerettet hatte, nicht bloßstellen. Es
war ein Abgrund, in den sie sich gleiten fühlte, Henri prüfte die
beiden Zimmer und wunderte sich über das Licht und die Möbel.
    »Sind Sie hier zu Hause?« wagte er endlich zu fragen, und als
sie schwieg, fügte er hinzu:
    »Ihr Schreiben hat mich sehr beunruhigt. Helene! Du verbirgst
mir etwas… «
    Helene hörte nicht. Er hatte ja schließlich ein Recht, an das
Stelldichein zu glauben. Warum anders würde sie hier gewartet
haben? Sie fand keine Ausrede, ja war sich nicht einmal mehr
sicher, ihm dieses Stelldichein nicht gewährt zu haben. Da überkam
sie tiefe Ohnmacht, in die, sie langsam versank.
    Im Hintergrunde schlummerte das Zimmer mit seinem breiten Bett.
Die Nachtlampe war heruntergebrannt. Eine der Gardinen, die sich
aus ihrer Manschette gelöst hatte, verdeckte halb die Tür. Im
kleinen Salon hatten die hoch brennenden Lichter des Kronleuchters
jenen warmen Brodem verbreitet, der nach Schluß einer Gesellschaft
zu herrschen pflegt. Von draußen hörte man das Niederprasseln eines
Regenschauers und ein dumpfes Rollen in dem großen Schweigen.

Kapitel 16
     
    Als Helene ihre Wohnung wieder betrat, war es längst dunkel
geworden. Während sie, sich am Geländer haltend, mühsam die Treppe
hinaufstieg, tropfte ihr Regenschirm auf den Stufen ab. Vor der
Flurtür blieb sie Atem holend stehen, noch benommen vom Rasseln des
Sturzregens, vom Anrempeln der rennenden Leute, geblendet vom
Widerschein der Gaslaternen, die in den Pfützen tanzten.
    Während Helene nach ihrem Schlüssel suchte, dachte sie, daß sie
sich keine Vorwürfe zu machen brauche noch auch Grund zur Freude
habe. Man konnte Geschehenes eben nicht rückgängig machen. Sie fand
ihren Schlüssel nicht, jedenfalls hatte sie ihn in der Tasche ihres
anderen Kleides stecken lassen. Es war ihr außerordentlich
peinlich, als ob sie sich selbst das Haus verwehrte. Sie mußte
schellen.
    »Ah, Madame ist's!« sagte Rosalie, die Tür öffnend. »Ich hatte
mir schon Gedanken gemacht.«
    Damit nahm sie den Regenschirm, um ihn in der

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