Ein Blatt Liebe
Küche
abzustellen.
»Oh, dieser furchtbare Regen! … Zephyrin ist auch eben erst
gekommen … Naß wie eine Katze. Ich habe mir erlaubt, ihn zum
Essen hier zu behalten, Madame, er hat bis um zehn Uhr Urlaub.«
Helene folgte ihr gedankenlos. Sie fühlte das Bedürfnis, alle
Räume ihrer Wohnung wiederzusehen, bevor sie ablegte. »Es ist schon recht, Rosalie,« gab sie
geistesabwesend dem schwatzenden Mädchen zur Antwort.
In der Küchentür verweilte sie ein wenig und starrte ins
brennende Feuer. Mechanisch öffnete sie einen Schrank und schloß
ihn wieder. Alle Möbel waren an ihrem Platze, nichts fand sie
verändert. Freude überkam sie. Zephyrin hatte sich respektvoll
erhoben, und sie nickte ihm lächelnd zu.
»Ich wußte nicht, ob ich den Braten anrichten sollte,« begann
das Mädchen wieder.
»Wie spät ist es denn?« fragte Helene, um etwas zu sagen.
»Fast sieben Uhr, Madame.«
»Was, sieben Uhr?«
Das Zeitgefühl war Helene abhanden gekommen. Endlich erwachte
sie aus ihrer Versunkenheit.
»Und Jeanne?«
»Oh, die ist sehr artig gewesen, Madame. Ich glaube sogar, sie
ist eingeschlafen. Ich habe sie jedenfalls nicht mehr gehört.«
»Hast du ihr denn kein Licht hineingestellt?«
Rosalie wurde verlegen. Sie mochte nicht gestehen, daß ihr
Zephyrin Bilder mitgebracht hatte. Nein, das Kind habe sich nicht
mehr gerührt. Helene war schon gegangen und trat voll böser
Ahnungen ins Zimmer des Kindes. Eiskalter Luftzug drang ihr
entgegen.
»Jeanne! Jeanne!«
Nichts rührte sich. Helene stieß an einen Sessel. Die halboffene
Tür zum Eßzimmer erhellte einen Winkel des Fußbodens. Sie
fröstelte, als ob der Regen mit seinem feuchten Hauche rieselnd ins
Zimmer strömte. Sie schaute jetzt nach dem blassen Viereck, welches
das Fenster in das Grau des Himmels schnitt. »Wer hat denn hier das Fenster offen gelassen!
Jeanne! Jeanne!«
Noch immer kam keine Antwort. Tödliche Unruhe packte die Mutter.
Sie wollte aus dem Fenster sehen und fühlte im Tasten einen
Haarschopf. Es war Jeanne. Und als Rosalie endlich mit der Lampe
kam, sah man das Kind. Es hatte die Wange auf das Fenstersims
gelegt, und das Regenwasser aus der Dachrinne hatte sie gänzlich
durchnäßt. Die Kleine atmete kaum, und an ihren großen bläulichen
Lidern hingen zwei schwere Tränen.
»O du unglückliches Geschöpfchen,« stammelte Helene. »Sie ist
schon ganz kalt … Hier einzuschlafen und bei solchem Wetter.
Ich hatte dir doch verboten, das Fenster anzurühren. Jeanne!
Jeanne! so wach doch auf!«
Rosalie hatte sich schuldbewußt zurückgezogen. Von der Mutter
auf den Arm genommen, ließ das Kind den Kopf fallen und vermochte
nicht, den bleiernen Schlaf abzuschütteln. Jetzt endlich öffnete
sie noch immer schlaftrunken die Lider und blinzelte geblendet ins
Lampenlicht.
»Jeanne, ich bin's! Was ist dir? Schau mich doch an! Mama ist
nach Hause gekommen… «
Das Kind musterte die Mutter wie eine Unbekannte. Plötzlich
schüttelte es sie. Sie schien endlich die Kälte zu fühlen. Das
Bewußtsein kam ihr wieder, und die Tränen tropften von ihren
Lidern. Sie schlug um sich, als wehre sie sich gegen die
Berührung.
»Du bist's, du bist's! … o laß mich doch, du drückst mich
zu sehr … mir war so wohl.«
Jeanne musterte die Mutter unruhig. An ihrer einen Hand fehlte
der Handschuh, und vor dem bloßen Gelenk der feuchten Handfläche
und den lauwarmen Fingern schreckte das Kind zurück.
»Komm, Jeanne, und gib mir einen Kuß,« sagte
Helene. »Ich bin ja gar nicht böse… «
Jeanne erkannte auch die Stimme nicht. Sie bekam wieder
Schmerzen in; der Brust und begann zu schluchzen.
»Nein, nein, ich bitte dich, laß mich … Du hast mich allein
gelassen … Ich war so unglücklich,« jammerte sie.
»Aber nun bin ich ja wieder da, mein Liebling … «, weine
doch nicht mehr … «
»Nein, nein, es ist aus … ich mag dich nicht mehr …
Oh, ich habe gewartet, gewartet… Ich habe zu viel Schmerzen
gelitten… «
Helene hatte sie wieder aufgehoben und zog das eigensinnig sich
wehrende Kind sanft an sich. »Nein, nein, Mama! Es ist nicht mehr
wie sonst… du bist nicht mehr dieselbe… «
»Wie? Was sagst du da, mein Kind?«
»Ich weiß nicht, aber du bist nicht mehr dieselbe… «
»Du meinst, ich hätte dich nicht mehr lieb?«
»Ich weiß nicht, du bist nicht mehr dieselbe… sag nicht nein! Es
ist aus, aus, aus! Ich will sterben!«
Leichenblaß hielt Helene sie wieder in den Armen. Las sie denn
das auf ihrem
Weitere Kostenlose Bücher