Ein Braeutigam und zwei Braeute
übersetzen. Oft übersetzte dieser eingebildete Rabbi meinem Vater Talmudstellen, die selbst ich verstand, ein kleiner Junge. Es war so peinlich, daß ich errötete. Ich dachte, Vater würde aufstehen und ihn zum Teufel jagen, aber Vaters Gesicht zeigte keine Spur von Kränkung. Wißbegierig lauschte er den Auslegungen des anderen, als wäre er, mein Vater, ein einfacher Mann, dem alles vorbuchstabiert werden mußte. Tatsächlich schien es so, als habe Vater besonderes Vergnügen an der Art und Weise, wie sein Gegenüber jedes Wort ins Jiddische übersetzte.
Einmal, als der Rabbi eine Talmudstelle zitiert hatte und sie unmittelbar darauf zu erläutern be gann, unterbrach Vater ihn: »Ich fürchte, Ihnen ist ein Fehler unterlaufen.«
Der Rabbi wurde erst rot, dann blaß. »Ein Fehler?«
Vater rechtfertigte sich sogleich. »Wir sollten uns wohl den Text ansehen. Manchmal macht man einen Fehler.« Und er zitierte den Bibelvers: »Wer vermag Irrtümer zu begreifen …? Jedermann kann einen Fehler machen.«
Ich dachte, der Rabbi würde zum Bücherschrank gehen, einen Talmudband herausholen und die Stelle nachschlagen – aber das tat er nicht, sondern wechselte statt dessen das Thema. Offensichtlich hätte er es für unpassend gehalten zuzugeben, daß Vater ihn bei einem Irrtum ertappt hatte. Er blieb nach wie vor sitzen, sprach weiterhin nur von sich und rauchte dabei seine Zigarre. Immer wieder brachte meine Mutter frischen Tee mit Zitrone.
Es war sehr mißlich, wenn während seines Besuchs Frauen hereinschneiten, weil sie eine Frage wegen der Speisegesetze hatten. Die Hausfrau hatte natürlich Vater sehen wollen, aber der andere Rabbi war es, der Gast, der sofort die Frage aufgriff. Er drehte sich zu der Frau um, fragte, wie groß der Suppentopf sei und wieviel Milch hineingeraten war. Bei anderer Gelegenheit – es gab Bedenken wegen eines Huhns – wartete er ab, daß Vater den Kropf aufschnitt, in dem die Frau einen Nagel gefunden hatte, oder die Ein geweide untersuchte, die pockennarbig waren. Wenn Vater diesen »unappetitlichen Teil« erledigt hatte, übernahm der andere Rabbi und fällte die Entscheidung. In meinen Augen war das eine große Unverschämtheit, und es ärgerte mich, den kleinen Jungen, ganz fürchterlich. Ich hoffte, Vater würde sagen: In dieser Straße bin ich der Rabbi, nicht Sie. Aber wieder ließ er nicht das leiseste Anzeichen von Verdruß erkennen. Im Gegenteil, er nickte freundlich zu allem, was der Rabbi sagte. Wenn die Frau ging, erwiderte nur Vater ihren Abschiedsgruß. Offensichtlich war es unter der Würde des Rabbis, einer gewöhnlichen Hausfrau zu antworten.
Später schlug ich den Fehler nach, den mein Vater gefunden hatte. Ich zeigte Vater, daß er es war, der recht hatte, nicht der Rabbi. Vater sagte: »Auch die größten Männer machen manchmal Fehler.«
»Vater, ist er wirklich so ein Gaon?« wollte ich wissen.
»Er ist ein großer Gelehrter.«
»Gibt es keine größeren?«
»Ist Toragelehrsamkeit meßbar? Jeder versteht die Tora gemäß seinen Fähigkeiten. Manchmal stößt man auf ein Problem, auf das ein großer Gelehrter keine Antwort weiß, während ein einfacher Mann die Lösung findet. Jeder hat teil an der Tora.«
Einmal kam der Rabbi und schien schrecklich wütend zu sein. Er hatte eine »lobende Stimme« zu einer gelehrten Abhandlung geschrieben, und der Verfasser hatte ihn, den Rabbi, nicht so betitelt, wie er es für angemessen hielt. Der Verfasser hatte ihn zwar Gaon genannt, das heißt Genie, hatte aber das Attribut »berühmt« weggelassen. Bei einer anderen lobenden Stimme hingegen hatte er den Begriff »berühmt« verwendet. Der Rabbi behauptete, all dies lasse ihn völlig kalt. Dieses kleine Nichts von Gelehrtem könne ihn nicht berühmt oder unberühmt machen, erklärte er. Aber die Unverschämtheit, die mache ihn wütend. Der Rabbi ließ kein gutes Haar an diesem Gelehrten. Er schimpfte ihn Flegel, Blödian, Schwachkopf, Esel, Narr, Trottel, Ochse und dergleichen mehr. Und beschwerte sich weiter: »Er taugt zum Autor genausogut wie ich zum Holzfäller. Er sollte sich lieber als Hilfslehrer betätigen anstatt als Gelehrter. Er ist ein Einfaltspinsel, ein Tolpatsch gewöhnlichster Sorte, eine Null. Von Leuten wie ihm heißt es: Was weise ist, stammt nicht aus seiner Feder, und was aus seiner Feder stammt, ist keine Weisheit. Kurz, er hat alles von anderen übernommen. Sein Buch enthält nicht einen einzigen
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