Ein Braeutigam und zwei Braeute
rundes Gesicht. Sie sprach nicht, sie sang. Ihr Jiddisch war eine Art Warschauer Jargon; sie fügte Worten Buchstaben hinzu und vertauschte Vorsilben. Sie sprach auch Polnisch. Sie hatte ein Baby, ein kleines Mädchen, das sie im Kinderwagen spazierenfuhr. In unseren Augen war all das gojisch.
In jener Wohnung schliefen sie noch um zehn Uhr morgens, weil sie erst um drei Uhr nachts zu Bett gingen. Außer Frühstück, Mittag- und Abendessen nahmen sie um Mitternacht noch ein weiteres Mahl zu sich. Das christliche Dienstmädchen ging spätabends noch einmal hinunter, um knusprige frische Brötchen, Wurst, Putenbrust, Leber, Rindsbraten, Gans oder eine kalte Platte zu holen, was dann alles in Senf getunkt und mit Bier hinuntergespült wurde. Manchmal aßen sie heiße Würstchen. Und während dieser Mahlzeit dröhnte lautes Reden und Rufen von Männerstimmen zu uns hinüber – der Wohnungsinhaber unterhielt sich mit seinen Gästen. Das Lachen der Frauen war im ganzen Hof zu hören.
Man unterstellte ihnen das Schlimmste. Der Mann rasierte sich. Selbst am Sabbat besuchte er die Synagoge nicht. Die Frau ging nicht in die Mikwe. Ihr Balkon war unserem benachbart, und dort taten sie lauter verbotene Dinge. Männer küßten Frauen. Sie gebrauchten grobe Ausdrükke. Meine Mutter sah einmal, wie die Hausherrin ihrem Hund einen Kuß gab. »Wie tief können Menschen sinken?« fragte sie. »Das ist die Folge, wenn die Menschen sich vom jüdischen Weg abwenden.«
Einmal gaben sie ein Fest und luden die Polizei dazu ein. Vater nahm sofort seinen Rabbinerhut ab und setzte einen hohen Samthut auf, denn er hatte keine Zulassung als Rabbi. Er befürchtete, die Polizei könnte während der Feier auf die Idee kommen, seine Wohnung zu inspizieren. Die Vorstellung, daß Juden mit Gendarmen an einem Tisch saßen, mit ihnen aßen, tranken und sich vergnügten, erschien ihm abwegig. Wie konnte man sein Essen genießen, wenn die Obrigkeit einem gegenübersaß? Wie konnten die Enkel von Abraham, Isaak und Jakob sich mit den Feinden Israels verbrüdern?
Vater sagte: »Wehe uns, all das geschieht, weil wir in dieser düsteren und bitteren Verbannung leben. Es ist höchste Zeit, daß der Messias kommt. Es ist Zeit, allerhöchste Zeit!«
Auch Mutter lief aufgebracht herum. Wir hörten Männer laut rufen, Frauen lachen, und nach einer Weile spielte das Grammophon einen Marsch, und wir konnten sie tanzen hören. Männer und Frauen tanzten miteinander, und all das geschah nicht mehr als ein oder zwei Türen von uns entfernt.
Eines Tages sah ich einige Polizisten zu der Wohnung hinaufgehen. Ich dachte, unsere Nachbarn gäben wieder ein Fest, aber es war etwas ganz anderes. Der Wohnungsinhaber wurde verhaftet. Ich sah ihn hinunterkommen, einen hochgewachsenen Mann mit langem Gesicht und langem Hals, der ein Hemd ohne Kragen trug. Seltsamerweise hing über seiner Schulter ein Paar mit einer Schnur zusammengebundener brand neuer Stiefel. Die neuen Stiefel faszinierten mich mehr als die Tatsache, daß man ihn festgenommen hatte. Der eine Stiefel baumelte ihm vor der Brust, der andere auf dem Rücken. Würde er jahrelang im Gefängnis bleiben müssen? Hatte er schon vorher gewußt, daß er eingesperrt würde? Und wenn ja, warum war er nicht geflohen?
Seine Frau folgte ihm, desgleichen viele andere. Vor dem Haus bestiegen die Polizisten und unser Nachbar eine Droschke, und ab ging's – zweifellos ins Gefängnis.
Ein paar Tage blieb die Wohnung ruhig. Kein Laut war zu hören vom Grammophon, von dem Hund, dem Papagei oder den Kanarienvögeln. Eine sonderbare Stille ging von den Räumen aus, deren Inhaber abgeholt worden war. Vater deutete an, daß diese Menschen jetzt vielleicht Reue fühlten, denn wenn sie schon in dieser Welt bestraft wurden, was hatten sie dann gewonnen? Doch er irrte sich.
Bald hörte man das Grammophon wieder dieselben lustigen Melodien und Liedchen spielen wie vorher. Wieder hörten wir den Hund und die Vögel. Und damit nicht genug, im Hof ging das Gerücht um, die Frau habe sich einen Liebhaber zugelegt. Ein Mann kam immer häufiger zu Besuch. Er war nicht so groß wie der Wohnungsinhaber, dafür aber breitschultrig. Er hatte eine breite Nase, einen dicken Schnurrbart und die Augen eines Wüstlings. Er trug eine polni sche Jacke und weite Reithosen. Seine Stiefel hatten so enge Stulpen, daß man sich kaum vorstellen konnte, wie ein Männerfuß da hineinkam. Er erschien immer mit einem
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