Ein Braeutigam und zwei Braeute
selbständigen Gedanken. Und leider ist er nicht einmal imstande, bei anderen korrekt abzuschreiben. Dafür bräuchte es einen Kopf auf den Schultern, aber bei ihm sitzt da bloß ein Kohlkopf. Und selbst der besteht nur aus Stiel …«
Vater schwieg. Sein Gesicht war rot. Ich sah mir später die »lobende Stimme« an, die der Rabbi für jenen Gelehrten verfaßt hatte. Darin hieß es: »In diesem Werk versetzt der Verfasser Berge. Er ist eine an Büchern reiche Bibliothek. Er ist in die tiefsten Tiefen des Talmud hinabgetaucht und mit einer Perle wieder heraufgekommen.« Diese blumige Sprache stand alles andere als im Einklang mit seiner Schimpfkanonade. Er war empört, daß der Verfasser ihn nicht »berühmt« genannt hatte.
An jenem Tag redete der Rabbi länger als sonst. Selbst ich begriff, daß dieser Mann wegen des verkürzten Ehrentitels fähig war zu morden. Es kochte und tobte in ihm. Er paffte eine Zigarre nach der anderen, und der ungesunde Qualm füllte bald unsere ganze Wohnung. Er ließ seine Wut an Vater aus. Er erläuterte jetzt nicht nur jede Talmudstelle, die er zitierte, nein, er fing sogar an, Bibelverse zu erläutern. Vater war in sich zusammengesunken. Es war ihm völlig unmöglich, irgendwie zu reagieren, weil der Rabbi ein so dichtes Sperrfeuer an Worten ausspie, daß er nicht einmal mit einem »Aber« dazwischengehen konnte. Kaum war der Rabbi fort, zog es Vater ins Bethaus. Ich hatte den Eindruck, daß er draußen wieder einen klaren Kopf bekommen wollte.
Ein andermal kam der Rabbi zu uns, als Vater gerade ein eigenes Werk veröffentlicht hatte, das eine »lobende Stimme« ebendieses Rabbis enthielt. Als Vater ihm das Buch zeigte, warf der Rabbi einen raschen Blick auf den Ehrentitel, mit dem Vater ihn bedacht hatte, und fing sofort an, von seinen eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Er beglückwünschte Vater nicht und machte keinerlei Anstalten, die Seiten aufzuschneiden und in das Buch hineinzusehen, wie es bei solchen Anlässen üblich war. In seinen Augen stand nichts als Gehässigkeit und Verachtung. Anscheinend empfand er die Tatsache, daß Vater ein Buch veröffentlicht hatte, als Beleidigung. Und noch etwas: In der Zeit zwischen den Besuchen des Rabbis hatte mein Vater sich eine Weile in Bilgoraj bei seinem Schwiegervater aufgehalten, meinem Großvater. Der Rabbi wußte recht gut, daß mein Vater eine Reise unternommen hatte, doch er erkundigte sich mit keiner Silbe danach. Für ihn war mein Vater lediglich ein Paar Ohren. Es genügte ihm, daß mein Vater hörte, was er, das weltberühmte Genie, zu sagen hatte …
Mutter verkündete, sie werde diesen Rabbi nicht wieder über die Schwelle lassen, aber Vater bat sie inständig, etwas Derartiges, Gott bewahre, nicht zu tun.
»Er hat seine Fehler, aber er ist ein großer Gelehrter«, sagte Vater.
Da äußerte meine Mutter etwas, was ich sie nie zuvor hatte sagen hören: »Ja, er ist groß. Eine große Nervensäge.«
Mit der Zeit hörten die Besuche des Rabbis auf. Ich wurde etwas älter. Einmal lobte ein Gelehrter das Buch meines Vaters. »Er deutet, was er sieht«, sagte er. Er hielt die schlichte Textaussage für wichtiger als jegliche Kasuistik. Er verglich Vater mit den frühen Kommentatoren. Da fragte ich den Gelehrten, ob er jenen Rabbi kenne, der uns immer besucht hatte, und ob der wirklich so ein Gaon sei.
Der Gelehrte antwortete: »Zusammenhangloses Geschwätz … Unmengen heißer Luft … In seinen Pilpuls versucht er mit allem Scharfsinn, Ost und West zusammenzuführen. Lassen zwei Mauern sich zusammenführen? Vergebliche Mühe … Er kann deinem Vater nicht das Wasser reichen.«
Lärm, der beim Studium stört
Ein paar Türen neben uns war eine Wohnung, deren Mieter liederlich waren. Kein Bordell, Gott bewahre, aber die Leute, die dort wohnten, waren entschieden hergelaufenes Volk. Der Mann handelte vermutlich mit Diebesgut, war also Hehler. Möglicherweise hatte er noch einen anderen Beruf, der aber auch nicht allzu koscher war. Seine Frau lief barhaupt herum. Nach Ansicht meiner Eltern war alles in ihrer Wohnung laut und aufdringlich. Die Wände waren rosa und rot. Sie hatten ein Grammophon, aus dem vom frühen Morgen bis zum späten Abend alle möglichen Theaterchansons quäkten. Sie hatten einen Käfig mit Kanarienvögeln und einen Papagei. Und als wäre es damit nicht genug, hielten sie auch noch einen Hund.
Die Frau war mollig, hatte große Brüste, einen kurzen Hals und ein
Weitere Kostenlose Bücher