Ein Braeutigam und zwei Braeute
»Man lebt nicht ewig. Es steht geschrieben, wenn, Gott behüte, ein Mensch stirbt, werden weder Silber noch Gold ihn begleiten. Keine Edelsteine und Perlen, sondern nur Mizwes und gute Werke.«
»Meinen Sie, ich weiß das nicht? Ich hab' eine kleine Almosenbüchse in meiner Küche hängen. Jeden Freitagabend zünd' ich Kerzen an. Jeden Tag tu ich ein paar Groschen rein. Möge mein Mann bei guter Gesundheit zu mir zurückkommen …!«
Bevor sie ging, wünschte Vater ihr alles Gute.
Kaum war sie fort, kam Mutter herein. »Na, was hast du erreicht?«
»Sie streitet alles ab.«
»Und du glaubst ihr?«
»Die Leute phantasieren sich alles mögliche zusammen.«
Mutter war über Vater verärgert, sie sagte, ihn könne wohl jeder zum Narren halten. Dann zitierte sie einen Bibelvers, der nicht gerade schmeichelhaft für ihn war. Er saß mit gesenktem Kopf da. Von Natur aus vertraute er den Menschen und mochte sich nicht mit Sünden und Bosheit befassen. Er hatte nur einen Wunsch: sich wieder dem Studium seines heiligen Buchs widmen zu können.
Einige Monate danach wurde der Ehemann der Frau aus dem Gefängnis entlassen, doch ihr Liebhaber – wie man ihn in der Straße immer noch nannte – kam weiterhin in die Wohnung. Das Grammophon lief, der Hund bellte, der Papagei krächzte, und die Kanarienvögel trillerten. Wieder gaben sie ein Fest und luden offensichtlich wieder die Polizei ein. Es war Sommer, und in unserer Wohnung war es heiß, aber Vater befahl mir, die Fenster zu schließen, und sagte: »Was schleichst du hier herum? Geh und studier die Gemara.«
Frage oder Ratschlag?
Die Tür ging auf, und ein junger Mann trat ein. Er ging gebeugt wie ein Greis, war bartlos und trug einen schwarzen Anzug mit Blechknöpfen und einen Hut mit lederner Krempe. Aus seinen Augen sprachen Leid und Eigensinn. Er war hohlwangig und von bräunlicher Gesichtsfarbe. Sein Auftauchen ließ meine Mutter leicht zusammenfahren, weil seine Schritte auf der Treppe nicht zu hören gewesen waren. Er stand nur da und sagte kein Wort.
»Was wünschen Sie?«
»Ist der Rabbi da?«
»Er ist in seinem Zimmer.«
»Na, was ist los?« fragte Vater ohne Umschweife.
»Rabbi, meine Frau ist eine Hure«, stieß der Fremde hervor.
Jetzt erst hob Vater seine Augen von der Gemara, die er gerade studierte. Verwirrt legte er ein schmales, schwarzes Bändchen zwischen die Seiten, zog dann sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn.
»Wovon sprechen Sie?«
»Rabbi, ich denke mir das nicht aus. Sie hat einen Liebhaber, der Tage und Nächte in unserem Haus verbringt. Sie küßt ihn vor meinen Augen. Wenn ich gehe, kriecht er zu ihr ins Bett …«
» Nu, nu, nu … ts ts ts«, murmelte Vater. Er schaute sich um; offensichtlich hatte er den Verdacht, ich sei im Raum. Doch ich steckte hinter dem Bücherschrank, der quer zur Wand stand, und er konnte mich nicht sehen. Und außerdem war er kurzsichtig. Eine Weile saß er nur da und starrte in seinen Text, als schäme er sich. Dann sagte er: »Warum lassen Sie so jemanden in Ihre Wohnung?«
»Sie läßt jeden ein, den sie will. In unserer Familie hat sie die Hosen an, nicht ich.«
»Was ist Ihre Tätigkeit?«
»Ich bin Totengräber. Nicht auf dem Friedhof in der Gęsiastraße, sondern auf dem in Praga. * Dort arbeite ich.«
Vater wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nun …«
»Ich bin den ganzen Tag nicht zu Hause. Manchmal gehe ich frühmorgens weg und komme nicht vor dem späten Abend zurück. Manchmal gibt es viele Tote. Darum tut sie, was sie will. Sie lebt vor aller Augen mit ihm und macht mich zum Gespött.«
*
Zwischen den Weltkriegen gab es in Warschau zwei jüdische Friedhöfe: den älteren in Praga (auf dem rechten Weichselufer) für die Armen und den anderen am Ende der Gęsiastraße, wo die Wohlhabenderen bestattet wurden (Anm. d. Verf.).
»Drohen Sie ihr mit Scheidung!« rief Vater. »Sie dürfen mit einer so zügellosen Frau nicht unter einem Dach bleiben!«
»Rabbi, sie leugnet es ganz und gar.«
»Was soll das heißen, sie leugnet es? Sie selbst haben mir eben gesagt, daß Sie es mit eigenen Augen gesehen haben.«
»Ich habe sie sich küssen sehen, aber nicht – wie sagt man – das Eigentliche.«
»Das reicht. Eine verheiratete Frau, die einen anderen Mann küßt, ist eine Hure!« Vater hob wieder die Stimme. »Sie verdient eine Scheidung ohne
Weitere Kostenlose Bücher