Ein Braeutigam und zwei Braeute
Mutter.
Vater erzählte uns, der Rabbi, der sich bei uns von seiner Frau hatte scheiden lassen, sei gestorben.
»War er krank?«
»Wer weiß!«
Mutter senkte den Kopf. Es ist die alte Geschichte: Die Völler, Säufer, Lügner und Diebe haben ein langes Leben. Die Gerechten sterben vor der Zeit – aber warum mußte das so sein? Nun, dem Herrn der Welt kann man keine Fragen stellen.
Vater sagte: »Letzten Freitag ist er beigesetzt worden. Er wird in seinem Grab nicht leiden müssen.«
Vater und ich gingen in sein Zimmer. »Was ist diese unsere Welt? Die Jahre fliegen vorüber. Wie lange ist es her, daß ich ein kleiner Junge gewesen bin? Es kommt mir vor wie gestern. Der Mensch nimmt nichts mit sich außer der Tora und guten Werken.«
»Kommt der Rabbi ins Paradies?« fragte ich.
»Du stellst Fragen!«
»Und kommt die Rebbezin in die Hölle?«
»Behüte Gott. Warum sollte sie …? Aber bedenke, daß selbst das Paradies mehrere Stufen hat.« Vater unterhielt sich ausführlich mit mir über die Heiligkeit des Landes Israel. Er sagte, nach dem Gesetz seien wir alle unrein, doch der Allmächtige über uns habe Mitleid mit uns – denn es sei nicht die Schuld der armen Juden. Unsere Verbannung dauere so lange wie die Nacht, doch die Erlösung werde kommen, sie werde bestimmt kommen.
»Wann, Vater?«
»Wenn wir ihrer würdig sind.«
»Wann?«
»Es hängt von dir ab.«
»Von mir?«
»Ja, von dir und mir und jedem einzelnen Juden. Der arme Messias bittet flehentlich, er möchte kommen, aber er darf nicht, weil die Juden sündig sind. Zeig Reue, und der Messias wird kommen!«
Die frühere Rebbezin lebte noch eine Reihe von Jahren, dann starb auch sie. Die Männer sprachen darüber im Radzyminer Bethaus. Ich dachte, die Frau werde sich bestimmt schämen, in der künftigen Welt zu erscheinen. Was würde sie zu ihrem früheren Ehemann sagen, dem Gerechten? Wie würde sie ihm unter die Augen treten können?
Er will von ihr Vergebung
Die Tür ging auf, und ein modisch gekleideter, bartloser junger Mann in Zylinder und kurzem Sakko trat ein. Er mochte etwa Ende Dreißig sein. Seine Erscheinung wie sein Aufzug, ja, sein ganzes Auftreten verströmten Wichtigkeit – die eines Arztes, Rechtsanwalts oder zumindest eines Buchhalters. Besonders bedeutend wirkte sein Kneifer, der ihm fest auf der Nase saß und mit einer dünnen schwarzen Schnur im Knopfloch seines Aufschlags befestigt war.
»Um was geht es?«
Der junge Mann begann ein wenig scheu und zögernd zu sprechen. Er fing an mit: »Rabbi, Sie werden lachen …«
Es stellte sich heraus, daß der junge Mann vor etwa zwölf Jahren mit einer ehrbaren jungen Warschauerin verlobt gewesen war. Dann hatte er eine andere kennengelernt und diese geheiratet. Man hatte ihn warnend darauf hingewiesen, wenn jemand eine Verlobung löse, sei ein Vergebungsbrief der Gegenseite erforderlich. Aber er war in die andere verliebt und hatte sich geschämt, bei der ersten wieder anzuklopfen, um den Brief zu erbitten. Besonders schämte er sich vor ihren Eltern. Kurz, er ließ sich nicht mehr blicken, zog mit der zweiten in eine andere Stadt und hoffte, die Zeit werde alles richten. So kann eine Verbindung auseinandergehen!
Jedoch hatte den jungen Mann das Pech verfolgt. Er machte einen Laden auf, aber der ging pleite. Er baute eine Fabrik auf: auch die hatte keinen Erfolg. Seine Frau bekam ein Kind, ein zweites, ein drittes, doch alle starben. Der junge Mann war nicht gläubig; nichtsdestoweniger gemahnten ihn alle diese Schicksalsschläge an das Unrecht, das er vor gut zwölf Jahren seiner ersten Verlobten zugefügt hatte. Er fing an, darüber nachzugrübeln und schließlich nachts davon zu träumen. Nicht lange, und er war besessen von der Vorstellung, es werde für ihn keine Wendung zum Besseren geben, ehe er nicht von seiner früheren Verlobten Verzeihung erlangt hatte. Sie hatte inzwischen geheiratet. Auf diese Nachricht hin hatte er alles stehen- und liegengelassen und war nach Warschau gereist, wo er entdeckte, daß seine frühere Verlobte in unserem – das heißt meines Vaters – Bezirk wohnte. Darum war er zu meinem Vater gekommen, um mit dessen Unterstützung einen Vergebungsbrief zu erhalten.
Vater hörte sich alles an, bevor er schließlich sagte: »Ja, es stimmt. Wenn einem Menschen Unrecht geschehen ist, hilft keine Reue. Man muß Vergebung erbitten.«
Vater schickte mich
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