Ein Braeutigam und zwei Braeute
Vogel gelebt, und eine Minute später waren alle seine Federn fort. Die anderen Vögel steckten ihre Köpfe aus den Käfigen, schauten nach hier und nach dort, glucksten und schnatterten und schlossen ihre roten Lider. Wie konnte Gott dies alles sehen und schweigen? fragte ich mich. Warum brauchte Er eine solche Welt? Warum hatte Er all dies geschaffen? Und wer würde all diesen Hühnchen ihre Leiden lohnen? Ich war wütend auf Wolf den Schächter wegen all dieser Morde. Mir fiel ein, daß er an den unreinen Tagen seiner Frau zu ihr kam, und mir wurde übel.
Einige Monate später ließ Wolf sich von seiner Frau scheiden und gab ihr mehrere hundert Rubel. Schon bevor er nach Amerika aufbrach, begann er sich in Warschau westlich zu kleiden und stolzierte im Hof in kurzem Sakko, langen Hosen und blanken Stiefeln herum. An der Weste über seinem Schmerbauch baumelte eine Uhrkette. Es hatte sich herumgesprochen, daß Wolf ein Verhältnis mit der Rupferin hatte und plante, sie mit nach Amerika zu nehmen. Meine Mutter ging ans Fenster und schaute eine Weile zu dem verwandelten Schächter hinunter, der alle Scham verloren hatte. Sie winkte Vater, auch ans Fenster zu kommen, doch er sagte: »Wozu? Das ist Zeitvergeudung.«
Vater zog das heilige Buch, das er studierte, näher zu sich her, als wolle er sein Gesicht vor der Welt und ihren Begierden und Versuchungen verbergen.
Ein Jahr verging. Der Schächter ging nach Amerika. Seine Frau zog aus unserem Hof weg. Dann ließ sie uns eines Tages Grüße durch eine Nachbarin ausrichten, die uns erzählte, die Schächtersfrau habe einen einfachen Fleischer geheiratet, einen ungehobelten jungen Mann. Sie trug nicht mehr ihre altmodische Haube, sondern eine gelockte Perücke. In weißer Schürze stand sie neben dem Hackklotz wie die geborene Fleischersfrau. Meine Mutter hörte unserer Nachbarin schweigend zu. Aus ihren blassen Augen leuchtete Traurigkeit.
»So sind die Menschen eben«, bemerkte sie.
Ein Gast im Schtibl
Eines Nachmittags betrat ein breitschultriger Riese mit gerötetem Gesicht, blondem Bart und wilden Augen das kleine chassidische Bethaus zur Zeit der Mincha. Sein Gewand war weder lang noch kurz. Er trug einen Pelzumhang und einen Kaftan mit Kapuze, der aussah, als stamme er aus dem Mittelalter. Seine Stiefel hatten breite Stulpen, in die er seine weiten Hosen gesteckt hatte. Er zog ein winziges Gebetbuch aus der Tasche und fing an, das Achtzehngebet zu sprechen.
Er betete hingebungsvoll, aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, waren hart und schwer wie Steine. Die Leute beobachteten ihn und zuckten die Achseln. »Wer ist das?« fragten sie.
Nach dem Gottesdienst begrüßten die Beter ihn mit »Scholem alejchem« und fragten ihn, woher er komme.
»Oh, von weit her.«
»Woher?«
»Aus Rußland.«
»Aus welcher Stadt?«
Er nannte eine, von der die Warschauer Chassidim noch nie gehört hatten.
»Und wie heißen Sie?«
»Awrom.«
An der Art, wie er »Awrom« aussprach, erkannten sie, daß er kein Jude war wie andere Juden. Nach einigem Hin und Her fanden sie heraus, daß Awrom Konvertit war. Er war ein Bauer aus einer entlegenen russischen Provinz, der in diese jüdische Straße in Warschau gezogen war, um hier als Blechschmied zu leben.
Als man ihn fragte, warum er Jude geworden sei, rief er aus: »Weil die Juden die Wahrheit haben!«
Die Juden waren verwundert. Noch mehr wunderten sie sich darüber, daß er zum Beten in ein chassidisches Schtibl gekommen war anstatt in eine reguläre Schul, aber alle hießen ihn freundlich willkommen. Als man ihm einen Aufruf zur Toralesung gewährte und ihn als »Reb Awrom ben Awrom« nach vorne rief, berührte der Konvertit die Tora mit den Schaufäden seines Gebetsmantels, küßte sie und sagte den Segensspruch mit tiefer Baßstimme, die aus einem Faß oder Grab zu kommen schien. Die kleineren Jungen kicherten und stießen einander mit den Ellbogen. Der Toravorleser konnte das Lachen gerade noch unterdrücken, indem er sich wiegte und finster das Gesicht verzog. Ja, vor uns stand ein Jude, ein frommer Jude – in Form und Gestalt eines Goi.
Binnen kurzem machte der Konvertit Ärger. Unter Chassidim ist es üblich, sich beim Gottes dienst zu unterhalten, doch wenn der Konvertit jemanden schwatzen hörte, wurde er rot und blaß vor Wut und schrie gereizt: »Pst – pst!«
Und legte einen Finger an die Lippen.
Während der stillen Andacht blieb er
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