Ein bretonisches Erbe
„Da… das… Datum…“ wisperte sie. „Es… es… ist dasselbe Datum.“
Julien trat an die Mauer um die Gedenktafel näher in Augenschein zu nehmen. Yuna hatte recht. In den rosa Granit war das gleiche Datum
eingemeißelt, auf das sie auch durch die Inschrift in der Höhle aufmerksam geworden waren. Marie van Veen war das Einzige, was außerdem noch auf der Tafel stand.
Die Kirchenglocke begann zu läuten.. „Wir schauen es uns später noch einmal genau an“, sagte Julien zu Yuna. „Lass uns jetzt zum Gottesdienst in die Kirche gehen.“
Sie folgte ihm wie in Trance und trug eine dumpfe Trauer mit sich, die sie beim Anblick der schlichten Granittafel ganz unvermittelt ergriffen hatte. So als hätte auch sie einen persönlichen Verlust auf See zu beklagen. Wer mochte diese Marie gewesen sein, die ganz offensichtlich am Tage der Geburt ihres Vater umgekommen war?
Die Kirche gehörte nicht zu den größten Gotteshäusern der Gegend, besaß aber ein eindrucksvolles Portal, welches den Eingang mit einem Bogen kunstvoll gemeißelter Figuren aus christlichen Allegorien überspannte. Ihre Themen waren die Vertreibung aus dem Paradies, die Passionsgeschichte und verschiedene, auch lokale Heiligenlegenden.
Wie viele Kirchen in der Bretagne war sie romanischen Ursprungs und bestand aus einem Mittelschiff und einem Querhaus. Die Innenausstattung hatte in der Renaissance eine erhebliche Aufwertung durch eine geschnitzte Holzabgrenzung und aufwendiges Gestühl für den Hohen Chor gefunden. Ein prunkvolles dreiteiliges Altarbild und eine über den Köpfen der Gemeinde schwebende, reich verzierte Kanzel waren im Barock dazu gekommen. Auf ihr stand der Geistliche und sprach auf Bretonisch zur Gemeinde.
Unzählige Schiffsmodelle aus Holz und Votivtafeln erinnerten auch in ihrem Inneren an die verzweifelten Angehörigen der Seeleute. Hier hatten sie Fürbitte geleistet und zahllose Kerzen für Maria, den Stern der Meere, angezündet, aber auch ihren Dank für die glückliche Heimkehr abgestattet, wenn ihre Gebete erhört worden waren.
Nach der Predigt stimmte die Gemeinde einen bretonischen Choral an und unter den Gesängen begann der Pardon.
Die Prozession wurde angeführt vom Geistlichen und den Ministranten, die an langen Ketten Weihrauchgefäße aus glänzend poliertem Messing schwangen, die bei jeder Bewegung ein feines, duftendes Rauchfähnchen hinterließen. Dann folgten vier Männer in schwarzer bretonischer Tracht mit einem breitkrempigen Hut. Sie trugen auf ihren Schultern die aus Holz geschnitzte und bunt bemalte Statue der Madonna.
Dahinter gingen, ebenfalls schwarz gekleidet und mit den hohen traditionellen, weißen Musselinhauben auf dem Kopf, die Witwen des Ortes. Überwiegend sehr alte Frauen mit runzeligen Gesichtern und zerarbeiteten Händen, durch welche der Rosenkranz glitt.
Dann marschierte die Congrégation des Anciens Marins vorbei, in welcher Yuna auch Juliens Großvater in Paradeuniform und mit Orden behangener Brust entdeckte.
Der Zug wurde auf seinem Weg zum Meer von einer Gruppe junger Männer begleitet, die auf traditionellen Instrumenten musizierten und bretonische Choräle anstimmten und die bretonische Hymne Bro Goz ma zadou , die jedes Kind mit pfeifen konnte.
Als der Zug an der Mole angekommen war, wurde die Marienstatue einige Meter den Bootsslip hinunter ins Wasser hineingetragen. Dabei sprach der Geistliche einen Segen und alle Umstehenden stimmten erneut gemeinsam einen Choral an.
Yuna und Julien waren der Prozession gefolgt, aber da alles auf Bretonisch geschah, verstand Yuna leider nur wenig.
„Was sagt er?“, fragte sie Julien. Aber auch der musste passen und schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung, so gut ist mein Bretonisch auch nicht. Ich denke, sie erbitten den Segen der Jungfrau Maria für die Fischer und Seefahrer.“
„Sie werden ihn brauchen“, sagte Yuna angespannt. „Immer noch.“
Die Prozession führte dann zurück in die Kirche und so blieben Julien und Yuna unten in der Bucht. Auch da begann nun geschäftiges Treiben.
An der Kaimauer entlang hatten die Anciens Marins und ihre Frauen zahlreiche Partyzelte aufgestellt, in denen Kunsthandwerk und leckere Speisen angeboten wurden. Am Strand standen Tische und Bänke und auf mehreren großen Grills wurden Makrelen geröstet. Julien besorgte für jeden von ihnen einen Fisch und dazu eine schöne Portion Salat und ein Stück frisches Baguette. Sie setzten sich zwischen die Einheimischen und ließen es
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