Ein dickes Fell
Gesichtausdruck darbieten. Kartäuserkater sehen aus, als hätten sie ein Spiegelei im Hirn, und nichts sonst.
Cheng griff also nach der Katze mit dem Spiegeleihirn. Helios fauchte kurz, ergab sich aber rasch seinem Schicksal. Mit dem Abstand zu seinen Schwestern wuchs seine Wehrlosigkeit. Ein besonders tolles Gebiß besaß er ohnedies nicht … Gebiß?! Zähne?!
Cheng setzte sich mit Helios aufs Sofa, fixierte ihn zwischen den eigenen Schenkeln und öffnete mit seiner nun freigewordenen Hand das Katzenmaul, indem er gegen die Scharniere des Kiefers drückte. Der arme Helios steckte jetzt rücklings in Chengs Schoß, als liege er auf einem Zahnarztstuhl. Im Einklang mit diesem Bild, offenbarte er ein trauriges Gebiß, ziemlich dunkle Zähne, gelbbraun wie das Leder alter Schultaschen, von den Lücken einmal abgesehen, die überall klafften.
Cheng sah auf den Zettel, den er neben sich liegen hatte und blickte dann in die Mundhöhle, die einen Schwall allerschlechtester Luft entließ. Luft wie nach einem dramatischen Fischsterben.
Von den vier möglichen Eckzähnen – denn »Eckzähne« war an erster Stelle notiert worden – hatte Helios nur einen verloren. Oder gerissen bekommen, je nachdem. Drei Eckzähne also. Dazu neun Schneidezähne, keinen einzigen Vorbackenzahn mehr und von vier möglichen Backenzähnen zwei Stück. Woraus sich ergab: 3 und 9 und 0 und 2, also: 3902.
Cheng ließ den Kiefer los und lockerte den Druck seiner Oberschenkel. Der verschreckte Sonnengott aber blieb regungslos liegen. Zudem vergaß er, seinen Mund zu schließen.
»Hau ab!« fuhr ihn Cheng an.
Das schien der Kater immerhin zu verstehen. Er drehte sich auf die Seite, stieß sich ungestüm und krallenlos ab, rutschte an Cheng herunter und erfüllte wenigstens die alte Katzenregel, auf allen vieren zu landen. Sodann trollte er sich zu seinen Schwestern, die nun ihrerseits den Bruder anfauchten. Du blöder Esel, schienen sie zu sagen.
Die Frage, die sich für Cheng zu allererst stellte, war die, weshalb Frau Kremser überhaupt den aus vier Ziffern bestehenden Namen Gottes mittels ihres Katers Helios festzuhalten oder zu verschlüsseln versucht hatte. Um einem schlechten Gedächtnis zuvorzukommen? Weil sie zum Dramatischen neigte? Zum Katzendrama? Weil sie sich hatte absichern wollen? Gegen den eigenen Tod absichern? Und wie um Himmels willen hatte es sich ergeben können, daß die ganz persönliche Zahlformel des Kater Helios mit dem wahren und geheimen Namen Gottes übereinstimmte? War das vorstellbar, daß die alte Frau Kremser – nicht weniger verrückt und unmenschlich als alle anderen – ihrem geliebten Kater die entsprechenden Zähne hatte ziehen lassen? Oder hatte sie überall nach einer Entsprechung gesucht und sie dann zufälligerweise im desolaten Maul einer ihrer Kartäuserkatzen gefunden?
Nun, so waren die Leute nun mal. Sie tendierten dazu, ihre Geheimnisse festzuhalten, Tagebücher zu führen, Geheimzahlen auf Zettelchen zu notieren, Codes zu entwerfen, Signaturen, mathematische Rätsel, Sprachspiele, Stolpersteine. Manche Menschen konnten sich einfach nicht damit zufriedengeben, vier Ziffern für sich zu behalten und mit in den Tod zu nehmen.
Frau Kremser hatte ein Geheimnis gehütet. Wer nun aber hütet, braucht einen Hut. Und manchmal ist der Hut eine Katze.
»Neununddreißignullzwei also«, murmelte Cheng, richtigerweise den Namen Gottes in der geteilten Form von 4711 aussprechend.
Er stand auf, faltete das kleine Papier und schob es sich in die Innentasche seines Jacketts. Dann wechselte er hinüber ins Schlafzimmer, wo Ginette ihn mit einem Körper empfing, den man nicht erst zum Leben erwecken mußte. Was für ein Glück!
Epilog für die, die immer alles genau wissen müssen
Es kann nun beim besten Willen nicht gesagt werden, ob 4711, egal ob als überall erhältliches Produkt und kombiniert mit dem Namen Gottes, oder auch nur jenes spezielle Kölnisch Wasser aus Soluschkas Besitz, dazu geeignet war, einen Golem zu erschaffen, eine ganze Welt zu vernichten oder im Moment des Todes eingenommen, diesen Tod zu überwinden. Für die Handlungen der Menschen zählt selten das Faktische, sehr viel mehr das Angenommene. Wofür man Verständnis haben sollte. Denn würden wir uns bloß auf unser Wissen verlassen, würden wir ständig zu spät kommen. Einzig und allein im Zaudern verharren.
Zeitlöcher mochten existieren oder nicht, Apostolo Janota ein Spinner sein oder tatsächlich aus einer sehr
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