Ein diplomatischer Zwischenfall
er eine winzige Nagelschere und in der Linken ein säuberlich abgeschnittenes Stück grünen Chiffons.
»Und jetzt«, murmelte er, »muss ich heroisch sein.«
Er kehrte in sein Zimmer zurück und ließ George zu sich kommen.
»Auf meinem Ankleidetisch, mein guter George, finden Sie eine goldene Krawattennadel.«
»Ja, Sir.«
»Auf dem Waschtisch steht eine Flasche mit Karbolsäure. Tauchen Sie, bitte, die Nadelspitze dort hinein.«
George tat, wie ihm befohlen. Schon seit Langem wunderte er sich nicht mehr über die närrischen Einfälle seines Herrn.
»Das habe ich gemacht, Sir.«
»Très bien! Nun kommen Sie her. Ich reiche Ihnen meinen Zeigefinger und Sie applizieren die Nadelspitze.«
»Entschuldigen Sie, Sir, soll ich Sie etwa in den Finger stechen?«
»Sie haben es erfasst, George, Sie müssen mir Blut abzapfen, aber, wohlgemerkt, nicht zu viel.«
George ergriff den Finger seines Herrn. Poirot schloss die Augen und lehnte sich in den Sessel zurück. Der Diener stach mit der Krawattennadel zu und Poirot stieß einen gellenden Schrei aus.
» Je vous remercie, George«, sagte er, »Sie haben es reichlich gut gemeint.«
Er nahm den grünen Chiffonfetzen aus der Tasche und tupfte damit seinen Finger sehr behutsam ab.
»Die Operation ist fabelhaft geglückt«, bemerkte er, als er das Ergebnis betrachtete. »Sind Sie gar nicht neugierig, George? Na, das ist ja bewundernswert.«
Der Diener hatte gerade einen diskreten Blick aus dem Fenster geworfen.
»Verzeihung, Sir«, sagte er leise, »soeben ist ein Herr in einem großen Wagen vorgefahren.«
»Aha«, sagte Poirot und erhob sich schnell. »Der schwer zu fassende Mr Victor Astwell. Schnell nach unten. Ich muss seine Bekanntschaft machen.«
Poirot hörte Mr Victor Astwell, bevor er ihn sah. Eine laute Stimme ertönte aus der Halle.
»Passen Sie doch auf, Sie verdammter Idiot! In der Kiste ist Glas! Verflucht nochmal, Parsons, stehen Sie nicht im Wege! Setzen Sie die Kiste doch hin, Sie Esel!«
Poirot hüpfte behände die Treppe hinunter und verbeugte sich höflich vor Victor Astwell, der ihn um Haupteslänge überragte.
»Zum Kuckuck nochmal, wer sind Sie denn?«, brüllte der gewaltige Mann.
Poirot machte noch eine Verbeugung.
»Mein Name ist Hercule Poirot.«
»Mein Gott!«, sagte Victor Astwell. »Nancy hat Sie also doch kommen lassen.«
Er nahm Poirot bei der Schulter und steuerte ihn in die Bibliothek.
»Sie sind also der Mann, um den so viel Geschrei gemacht wird?«, sagte er und blickte ihn von oben bis unten an. »Entschuldigen Sie die harten Ausdrücke, die Sie soeben gehört haben. Aber mein Chauffeur ist ein verdammter Esel, und Parsons geht mir auf die Nerven, der schwatzhafte alte Idiot. Ich kann Dummköpfe nun mal nicht ausstehen. Aber nach allem, was man so hört, sind Sie kein Dummkopf, was?«
Er lachte jovial.
»Alle, die das angenommen haben, haben sich tüchtig in die Nesseln gesetzt«, sagte Poirot seelenruhig.
»Wirklich? Nancy hat Sie also hergeschleift – sie hat sich nämlich Raupen in den Kopf gesetzt wegen des Sekretärs. Das ist natürlich glatter Unsinn. Trefusis ist so sanft wie eine Kuh – trinkt auch, glaube ich, Kuhmilch. Der Bursche ist tatsächlich Abstinenzler. Eigentlich eine Zeitvergeudung für Sie, nicht wahr?«
»Man vergeudet nie Zeit, wenn man Gelegenheit hat, die menschliche Natur zu studieren«, sagte Poirot ruhig.
»Die menschliche Natur, was?«
Victor Astwell starrte ihn verdutzt an. Dann warf er sich in einen Sessel.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Ja, Sie können mir sagen, worüber Sie sich mit Ihrem Bruder an dem fraglichen Abend gestritten haben.«
Victor Astwell schüttelte den Kopf.
»Hat nichts mit dem Fall zu tun«, sagte er mit Bestimmtheit.
»Das kann man nie wissen.«
»Es hat nichts mit Charles zu tun.«
»Lady Astwell ist der Ansicht, dass Charles nichts mit dem Mord zu tun hat.«
»Ach, Nancy!«
»Parsons nimmt an, dass es Mr Charles Leverson war, der spät nachts nachhause gekommen ist, hat ihn aber nicht gesehen. Sie müssen bedenken, niemand hat ihn gesehen.«
»Da sind Sie aber auf dem Holzweg«, sagte Astwell. »Ich habe ihn gesehen.«
»Sie?«
»Die Sache war ganz einfach. Reuben hatte zuerst Charles tüchtig angepfiffen – und ich muss sagen, nicht ohne Grund. Später versuchte er dann, mich abzukanzeln. Ich habe ihm aber heimgeleuchtet. Und nur um ihn zu ärgern, hatte ich den Entschluss gefasst, mich auf Charles’ Seite zu stellen. Ich wollte
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