Ein diplomatischer Zwischenfall
hat ziemlich viel Licht in die Angelegenheit gebracht. Es besteht kein Zweifel, dass der Sekretär den Brieföffner fest umklammerte, als er von Sir Reuben abgekanzelt wurde, und starke Selbstkontrolle ausüben musste, um einen Zornesausbruch zu unterdrücken. In ihrem Bewusstsein beschäftigte sich Lady Astwell ganz und gar mit Lily Margraves Problem, aber im Unterbewusstsein hat sie die Handlung wahrgenommen und ihr eine falsche Bedeutung beigelegt. Sie gewann dadurch die feste Überzeugung, dass Sir Reuben von Trefusis ermordet wurde. Nun kommen wir zu der Ausbuchtung im Vorhang. Das ist interessant. Ihrer Beschreibung des Turmzimmers entnehme ich, dass der Schreibtisch in der Fensternische steht. Das Fenster hat natürlich Vorhänge, nicht wahr?«
»Ja, mon ami, schwarze Samtvorhänge.«
»Und ist genug Platz vorhanden, dass sich jemand hinter den Vorhängen verbergen kann?«
»Ja, gerade genug, glaube ich.«
»Dann scheint wenigstens die Möglichkeit zu bestehen«, sagte der Doktor langsam, »dass jemand sich im Zimmer versteckt hielt. Aber dann konnte es nicht der Sekretär sein, da sie beide gesehen haben, wie er das Zimmer verließ. Victor Astwell konnte es auch nicht sein; denn Trefusis stieß mit ihm zusammen, als Victor aus dem Zimmer kam, und Lily Margrave kommt auch nicht infrage. Wer es auch gewesen sein mag, er musste sich dort versteckt haben, bevor Sir Reuben an dem Abend das Zimmer betrat. Sie haben mir die Situation ja ziemlich gut beschrieben. Wie steht es denn mit Captain Naylor? Hätte der sich dort verstecken können?«
»Das wäre schon möglich«, gab Poirot zu. »Es steht fest, dass er im Hotel gegessen hat. Wann er aber nach dem Essen ausgegangen ist, ist schwer zu sagen. Zurückgekehrt ist er um halb eins.«
»Dann mag er es gewesen sein«, sagte der Arzt, »und wenn das der Fall ist, hat er auch das Verbrechen begangen. Er hatte ein Motiv und eine Waffe gleich zur Hand. Aber wie mir scheint, findet die Idee keinen rechten Anklang bei Ihnen.«
»Ich habe andere Ideen«, gestand Poirot. »Nun sagen Sie mir eins, Monsieur le docteur – nehmen wir für eine Sekunde an, Lady Astwell selbst habe das Verbrechen begangen. Würde sie in der Hypnose diese Tatsache ohne Weiteres verraten?«
Der Arzt pfiff leise vor sich hin.
»So, also daher weht der Wind. Lady Astwell ist die Täterin, wie? Möglich ist das natürlich. Bis zu diesem Augenblick habe ich allerdings nicht daran gedacht. Sie war zuletzt bei ihm, und niemand hat ihn danach lebend gesehen. Ihre Frage möchte ich jedoch mit einem ›Nein‹ beantworten. Lady Astwell würde sich der Hypnose unterziehen mit dem starken innerlichen Vorbehalt, nichts über ihre Rolle bei dem Verbrechen zu sagen. Sie würde meine Fragen wahrheitsgetreu beantworten, aber über diesen einen Punkt würde sie schweigen. Allerdings hätte ich dann kaum erwartet, dass sie so sehr auf Mr Trefusis’ Schuld bestehen würde.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot. »Aber ich habe nicht behauptet, dass Lady Astwell die Täterin ist. Es ist nur eine Idee, weiter nichts.«
»Es ist ein interessanter Fall«, sagte der Doktor nach einer Weile. »Selbst wenn Mr Leverson unschuldig ist, gibt es noch so viele Möglichkeiten: Humphrey Naylor, Lady Astwell und selbst Lily Margrave.«
»Da ist noch jemand, den Sie nicht erwähnt haben«, sagte Poirot ruhig. »Victor Astwell. Wie er selbst zugab, saß er in seinem Zimmer bei offener Tür, um auf Charles Leversons Rückkehr zu warten. Aber wir haben nur sein Wort dafür, verstehen Sie?«
»Das ist der Mann mit dem aufbrausenden Temperament, nicht wahr?«, fragte der Arzt.
»Das stimmt«, gab Poirot zu.
Der Doktor erhob sich.
»Ich muss jetzt zurück in die Stadt. Sie werden mich aber hoffentlich auf dem Laufenden halten, nicht wahr?«
Sobald der Doktor gegangen war, klingelte Poirot nach George.
»Bitte eine Tasse Kräutertee, George. Meine Nerven haben ziemlich gelitten.«
»Gewiss, Sir«, sagte George, »ich will ihn sofort zubereiten.«
Zehn Minuten später brachte er seinem Herrn eine dampfende Tasse. Poirot atmete den bitteren Duft mit Behagen ein. Während er seinen Trunk schlürfte, redete er laut vor sich hin:
»Die Jagd ist doch immer wieder anders. Um den Fuchs zu fangen, galoppiert man in Begleitung von Hunden hinter ihm her. Man schreit, man rennt, alles ist Eile und Bewegung. Die Hirschjagd ist wieder so ganz anders. Hier kriecht man endlose Stunden auf dem Bauch umher. Wir, mein guter George, dürfen
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