Ein diskreter Held
um acht, gerade das Messgewand ablegte. »Du hier, Öhrchen? Nach all der Zeit. Ich kann es nicht glauben.«
Er war groß, beleibt, jovial, hatte freundliche kleine Augen, die hinter der Hornbrille aufblitzten, und eine fortgeschrittene Glatze. Den ganzen Raum schien er auszufüllen in dieser kleinen Sakristei mit ihren abblätternden Wänden und dem löchrigen Boden, wo das Tageslicht, von Spinnweben verhängt, durch eine Lichtkuppel hereinfiel.
Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen, vielleicht seit einem Jahr, und umarmten einander in alter Herzlichkeit. Auf dem Colegio La Recoleta, das sie von der ersten Grundschulklasse bis zur fünften der Sekundarstufe besucht hatten, waren sie enge Freunde gewesen und einmal sogar Pultnachbarn. Als beide dann auf die Universidad Católica gingen, um Jura zu studieren, sahen sie sich weiterhin oft. Sie engagierten sich in der Katholischen Aktion, hörten dieselben Vorlesungen, lernten gemeinsam. Bis eines Tages Pepín O’Donovan seinem Freund Rigoberto die Überraschung seines Lebens bescherte.
»Sag nicht, dein Besuch bedeutet, dass du dich bekehrt hast und ich dir die Beichte abnehmen soll, Öhrchen«, witzelte Pater O’Donovan und führte ihn am Arm zu seinem kleinen Pfarrbüro. Er bot ihm einen Stuhl an. Dort gab es Regale, Bücher, Broschüren, ein Kruzifix, ein Foto des Papstes und ein weiteres von Pepíns Eltern. Ein Teil des Daches war eingesunken und zeigte das Gemisch aus Rohr und Lehm, mit dem es konstruiert war. Ob dieses Kirchlein ein Relikt aus der Kolonialzeit war? Baufällig war es jedenfalls, es konnte jeden Moment einstürzen.
»Ich komme, weil ich deine Hilfe brauche, so einfach.« Rigoberto ließ sich auf den Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht knarrte, und holte tief Luft. Pepín war der einzige Mensch, der ihn noch beim Spitznamen aus der Schule nannte: Ohr, Öhrchen. In seiner Jugendzeit hatte es ihm einige Komplexe verursacht. Jetzt nicht mehr.
An jenem Morgen zu Beginn des zweiten Studienjahres, als Pepín O’Donovan ihm in der Cafeteria der Universität, mit einer Ungezwungenheit, als erzählte er von einer Übung in Zivilrecht oder vom letzten Spiel zwischen Alianza und La U, auf einmal verkündete, dass sie sich eine Weile nicht sehen würden, weil er noch am selben Abend nach Santiago de Chile aufbreche, um ins Priesterseminar einzutreten, da glaubte Rigoberto an einen Scherz. »Heißt das, du willst Pfarrer werden? Mach keine Witze, Mann.« Sicher, beide hatten sich bei der Katholischen Aktion engagiert, doch nicht einmal seinem Freund Öhrchen gegenüber hatte Pepín je angedeutet, dass er den Ruf gehört habe. Was er ihm nun sagte, war kein Scherz, ganz und gar nicht, sondern eine über die Jahre hinweg in Einsamkeit und Stille gereifte Entscheidung. Später erfuhr Rigoberto, dass Pepín mit seinen Eltern viele Probleme gehabt hatte, weil seine Familie mit allen Mitteln versuchte, ihn von seinem Wunsch abzubringen.
»Na klar, Mensch«, sagte Pater O’Donovan. »Wenn ich dir helfen kann, sehr gern, Rigoberto, ist doch selbstverständlich.«
Pepín war nie einer dieser frommen Knaben gewesen, die bei jeder Schulmesse zur Kommunion gingen und von den Priestern gehätschelt wurden, Patres, die ihnen einzureden versuchten, sie hätten eine Berufung und seien von Gott zum Priesteramt auserwählt. Er war der normalste Junge der Welt, vertrieb sich die Zeit gerne beim Sport, auf Partys, auf der Straße, und er hatte er sogar mal ein Liebchen gehabt, Julieta Mayer, eine sommersprossige Volleyballspielerin, die aufs Santa Úrsula ging. Er erfüllte seine Messepflicht, wie alle Schüler des La Recoleta, und bei der Katholischen Aktion war er ein recht eifriges Mitglied gewesen, allerdings, soweit Rigoberto sich erinnerte, nicht frommer als andere und auch nicht besonders interessiert an den Gesprächen zur religiösen Berufung. Er machte auch nicht die Exerzitien mit, welche die Geistlichen ab und zu in einem Landhaus in Chosica organisierten. Nein, es war kein Scherz, sondern sein felsenfester Entschluss. Er hatte den Ruf schon als Kind vernommen und lange darüber nachgedacht, ohne es irgendwem zu erzählen, und jetzt wollte er den großen Schritt tun. Ein Zurück gab es nicht. Noch am selben Abend brach er nach Chile auf. Das nächste Mal, als sie sich sahen, einige Jahre später, war Pepín bereits Pater O’Donovan, kleidete sich als Geistlicher, trug Brille und eine vorzeitige Glatze und begann seine Karriere als notorischer
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