Ein diskreter Held
O’Donovan lachte nun nicht mehr und hörte ihm aufmerksam zu. »Auch wenn er es uns nicht sagt, aber die Sache hat den Jungen völlig durcheinandergebracht. Er ist wie verwandelt, Pepín. Immer hatte er einen ordentlichen Appetit, und jetzt rührt er kaum einen Bissen an. Er macht keinen Sport mehr, und wenn seine Freunde kommen, erfindet er eine Ausrede. Lucrecia und ich müssen ihm einen Schubs geben, damit er mal vor die Tür geht. Er ist einsilbig geworden, introvertiert, ungesellig, wo er sonst immer so umgänglich war und so viel gequasselt hat. Tag und Nacht verkriecht er sich, als würde ihn etwas von innen auffressen. Ich erkenne meinen Sohn nicht wieder. Wir haben ihn zu einer Psychologin geschickt, die hat alle möglichen Tests mit ihm gemacht. Laut ihrer Diagnose ist nichts mit ihm, er sei der normalste Junge der Welt. Ich schwöre dir, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen, Pepín.«
»Wenn du wüsstest, wie viele Menschen glauben, sie hättenErscheinungen, Rigoberto, du kämst aus dem Staunen nicht heraus«, versuchte Pater O’Donovan ihn zu beruhigen. »Im Allgemeinen sind es alte Frauen. Jugendliche seltener. Die haben unkeusche Gedanken, vor allem das.«
»Könntest du nicht mit ihm sprechen?« Rigoberto war nicht nach Scherzen zumute. »Ihm einen Rat geben? Ich weiß selbst nicht. Das war Lucrecias Idee, nicht meine. Sie denkt, bei dir würde er sich vielleicht mehr öffnen als uns gegenüber.«
»Das letzte Mal war im Kino des Larcomar, Papa.« Fonchito hatte die Augen niedergeschlagen und zögerte. »Am Freitagabend, als ich mit dem Stups den letzten James Bond gesehen habe. Ich war total gepackt von dem Film, der ist echt super, und auf einmal, auf einmal …«
»Auf einmal was?«
»Auf einmal habe ich ihn gesehen, er saß genau neben mir«, sagte Fonchito, mit hängendem Kopf und schwer atmend. »Er war es, ganz sicher. Ich schwöre es, Papa, er saß da. Der Herr Edilberto Torres. Seine Augen glänzten, und dann habe ich gesehen, wie ihm ein paar Tränen kamen. Wegen des Films konnte es nicht sein, Papa, auf der Leinwand war nichts Trauriges, alles bloß Prügeleien, Küsse und Verfolgungsjagden. Das heißt, er hat wegen etwas anderem geweint. Und dann, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, aber dann dachte ich, dass er vielleicht wegen mir so traurig war. Dass er meinetwegen weinte, meine ich.«
»Deinetwegen?«, stammelte Rigoberto. »Und warum sollte dieser Herr deinetwegen weinen, Fonchito? Wieso sollte er Mitleid mit dir haben?«
»Das weiß ich nicht, Papa, ich rate nur. Aber warum, glaubst du, sollte er sonst weinen, wenn er neben mir saß?«
»Und als der Film zu Ende war und die Lichter angingen, saß Edilberto Torres da noch immer auf seinem Sessel?«, fragte Rigoberto und wusste die Antwort genau.
»Nein, Papa. Er war gegangen. Ich weiß nicht, wann er aufgestanden ist. Ich habe es nicht gesehen.«
»Verstehe, alles klar«, sagte Pater O’Donovan. »Ich sprechemit ihm. Wenn Fonchito denn auch mit mir sprechen will. Versuch jedenfalls nicht, ihn zu drängen. Zwing ihn bloß nicht zu mir. Nichts dergleichen. Er soll freiwillig kommen, wenn ihm danach ist. Dann unterhalten wir beide uns wie Freunde, sag es ihm so. Ich wette, es ist bloß eine Kinderei, Rigoberto. Nimm die Sache nicht zu ernst.«
»Am Anfang habe ich das auch nicht«, sagte Rigoberto. »Lucrecia und ich glaubten, wo er ein Junge mit so viel Fantasie ist, hat er sich die Geschichte nur ausgedacht, um sich wichtigzutun. Damit wir uns um ihn kümmern.«
»Aber gibt es diesen Edilberto Torres wirklich, oder ist er reine Erfindung?«, fragte Pater O’Donovan.
»Das wüsste ich auch gerne, Pepín, deshalb bin ich hier. Bisher habe ich es nicht herausgefunden. Manchmal glaube ich es, und am nächsten Tag wieder nicht. Mal denke ich, dass der Junge die Wahrheit sagt, und dann wieder, dass er mit uns spielt, dass er uns anschwindelt.«
Rigoberto hatte nie verstanden, warum Pater O’Donovan, statt sich auf die Lehre zu stürzen und in der Kirche eine Karriere als Gelehrter und Theologe hinzulegen – er war gebildet, empfindsam, liebte die Ideen und die Künste, las viel –, sich auf diese pastorale Aufgabe versteift hatte, in dieser bescheidenen Gemeinde von Bajo el Puente, dessen Einwohner Leute mit geringer Bildung sein mussten, eine Welt, in der sein Talent so gut wie unterging. Einmal hatte er sich getraut, ihn darauf anzusprechen. Warum hatte er nicht geschrieben oder Vorträge gehalten? Warum nicht an
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