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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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aufgefallen wäre, war das Haus aber schon seit dem gestrigen Abend sorgsam überwacht worden.
    Dimitri Nicolef öffnete das Schreiben und überflog dessen Inhalt. Es enthielt nur die Worte:
    »Der Richter Kerstorf ersucht den Privatlehrer Dimitri Nicolef, sich ohne Säumen in seinem Bureau, wo er ihn erwartet, einzufinden. Dringliche Angelegenheit.«
    Nach Durchlesung der wenigen Zeilen machte Dimitri Nicolef unwillkürlich eine Bewegung, die etwas mehr als Überraschung ausdrückte. Er erbleichte, und sein Gesicht verriet eine lebhafte Beunruhigung…
    Er meinte aber doch, daß es das Beste sei, der ihm vom Richter Kerstorf so bestimmt ausgesprochenen Einladung Folge zu leisten, und so zog er den Mantel wieder an, und ging nach dem Zimmer hinunter, in dem sich seine Tochter befand.
    »Ilka, sagte er, ich habe soeben eine Mitteilung von Herrn Kerstorf, dem Richter, erhalten, der mich ersucht, nach seinem Bureau zu kommen…
    – Der Richter Kerstorf? antwortete das junge Mädchen. Was kann er von dir wollen, Vater?
    – Ja, das weiß ich selbst nicht, erwiderte Nicolef, der dabei den Kopf abwendete.
    – Sollte es sich um eine Angelegenheit handeln, die Jean anginge und ihn genötigt hätte, Dorpat so unerwarteterweise zu verlassen?
    – Das weiß ich auch nicht, Ilka… Ja… vielleicht. Nun, wir werden ja darüber sehr bald aufgeklärt sein.«
    Der Privatlehrer ging hinaus, ohne daß seine Tochter seine Unruhe bemerkt hätte. Mit dem Polizisten an seiner Seite, schritt er unsicher, sozusagen mechanisch, des Wegs dahin und sah gar nicht, daß er die Zielscheibe der öffentlichen Aufmerksamkeit war, ebensowenig daß einzelne ihm folgende oder begegnende Leute recht mißfällige Blicke auf ihn richteten.
    Im Gerichtsgebäude angekommen, wurde er in das Amtszimmer geführt, worin ihn der Richter Kerstorf, der Major Verder und ein Aktuar schon erwarteten. Man begrüßte sich gegenseitig, und Dimitri Nicolef wartete, daß man das Wort an ihn richten würde.
    »Herr Nicolef, begann da der Richter Kerstorf, ich habe Sie hierher rufen lassen, um einige Erkundigung über eine Sache einzuziehen, mit deren Untersuchung und Aufklärung ich betraut worden bin…
    – Um was handelt es sich, Herr Richter? fragte Dimitri Nicolef.
    – Nehmen Sie zunächst Platz und hören Sie mich an.«
    Der Lehrer setzte sich auf einen Stuhl gegenüber dem Schreibtische, hinter dem der Armsessel des Richters stand, während der Major am Fenster stehen blieb. Das Gespräch nahm jetzt mehr den Charakter eines Verhörs an.
    »Erstaunen Sie nicht darüber, sagte der Richter, daß die Fragen, die ich an Sie zu stellen habe, Ihre Person insofern berühren, als sie sich auf Vorgänge in Ihrem Privatleben beziehen. Es ist sehr notwendig, im Interesse der Sache, wie in Ihrem eigenen, daß Sie mir diese ohne Umschweif beantworten.«
    Nicolef, der den Richter mehr nur ansah, als daß er auf seine Worte hörte, verhielt sich einige Augenblicke schweigend und begnügte sich, die Arme gekreuzt haltend, mit einem schwachen Neigen des Kopfes.
    Kerstorf hatte das Protokoll der Untersuchung am Tatorte vor sich liegen. Er schlug es auf dem Tische auf und fragte ruhigen, doch ernsten Tones:
    »Herr Nicolef, Sie sind einige Tage von hier abwesend gewesen?
    – Das ist richtig.
    – Wann hatten Sie Riga verlassen?
    – Am dreizehnten, ganz früh am Morgen.
    – Und wann sind Sie zurückgekehrt?
    – Vergangene Nacht gegen ein Uhr.
    – Sie waren allein verreist?…
    – Ganz allein.
    – Und sind Sie auch allein zurückgekommen?
    – Ebenfalls allein.
    – Sie haben sich der fahrenden Post nach Reval bedient?
    – Ja, antwortete Nicolef, doch mit einigem Zögern.
    – Für den Rückweg aber…
    – Habe ich eine Telega genommen.
    – Wo hatten Sie diese Telega gefunden?
    – Etwa fünfzig Werst von hier auf der Rigaer Landstraße.
    – Es war also am Morgen des dreizehnten, wo Sie abgefahren sind?
    – Ja, Herr Richter, früh sechs Uhr.
    – Befanden Sie sich im Postwagen allein?
    – Nein, darin saß noch ein anderer Reisender.
    – Kannten Sie diesen?
    – Nicht im geringsten.
    – Sie haben da aber doch bald erfahren, daß das ein Bankangestellter des Hauses der Gebrüder Johausen, ein gewisser Poch war?
    – Ja freilich; der ziemlich plauderhafte Mann hat sich ja fast unausgesetzt mit dem Schaffner des Wagens unterhalten.
    – Er sprach da von persönlichen Angelegenheiten?
    – Von nichts anderem.
    – Und was äußerte er da?
    – Daß er im Auftrage der Herren

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