Ein dunkler Gesang
Priesterkragen abgelegt?»
«Mir war heiß. Ich schwöre bei Gott, dass ich mein Bestes tue, um keine Gewalt anwenden zu müssen …
Nein!
»
Hugo hatte versucht, sich durch die Tür zu schieben.
«Tu das nicht, mein Sohn», sagte Spicer erschöpft. «Bitte. Ich kann dir sehr weh tun, und wenn du mich dazu zwingst, es zu beweisen, haben wir alle beide nichts davon. An deiner Stelle würde ich in vollem Umfang kooperieren, weil mir klarwerden würde, wie sehr die Situation gegen mich spricht. Wir verstehen uns doch, oder, Hugo?»
Hugos schmales Gesicht war beinahe weiß, mit Ausnahme der Augen, die rot und geschwollen wirkten. Auf seiner Wange waren Schürfwunden von dem Kies, auf den er im Hof gefallen war.
Spicer sagte: «Ich bin sicher, dass Mrs. Watkins mir den Gefallen, um den ich sie gebeten habe, viel lieber tun würde, wenn sie wüsste, dass ich dir nicht weh tun muss.»
«Verpisst euch», sagte Hugo.
Nie war dieser Satz mit kläglicherer Stimme ausgesprochen worden.
«Ist eine Männerwelt, was Hugo?», sagte Spicer. «Hattest du dieses Gefühl, als ihr euch Winnie vorgeknöpft habt? Das war nicht wie bei Wicklow, oder? In der Höhle warten, bis er kommt, dann ein Schlag auf den Kopf, und der Rest ist … tja, einfach. Jemanden abschlachten ist schließlich ein Klacks für einen Jungen vom Land, hab ich recht? Wir haben ja schon öfter geschlachtet, oder? Wahrscheinlich Schweine. Das hat uns direkt Spaß gemacht, oder? Da haben wir uns gefühlt wie ein großer, erwachsener Mann, stimmt’s? Die Macht über Leben und Tod.»
Hugo schniefte und wagte es nicht, Spicer anzusehen.
Spicer sagte: «Vielleicht war es bei Wicklow sogar noch einfacher als bei den Schweinen.»
Er sah zu Merrily hinüber. Sie bewegte sich nicht, mied den Blickkontakt. In dem bläulichen Neonlicht war Spicers Miene vollkommen ausdruckslos, genau wie seine Stimme.
«Aber wenn man sie direkt vor sich hat, wenn sie einen ansehen und wenn sie wissen, was kommt, und wenn sie um ihr Leben kämpfen, dann ist es nicht so einfach, oder?»
Er trat einen Schritt auf Hugo zu, der sich in eine Ecke zurückzog und dabei über eine Kiste stolperte.
«Ich meine, es ist sogar
unglaublich
viel schwieriger. Sogar wenn man zu zweit ist, zwei harte Kerle gegen eine kleine Frau.»
Merrilys Mund wurde trocken.
«Erstaunlich, wie lange sie noch lebendig bleiben, findest du nicht?», sagte Spicer. «Du hackst immer wieder auf sie ein, und ihr Blut spritzt überall herum … das hättest du nicht gedacht, oder, wie viel
Leben
es da zu vernichten gibt, wenn sie so wild entschlossen sind, sich daran zu klammern. Du stichst mit dem Messer auf sie ein, hackst das Leben aus ihr heraus, und immer noch klammert sie sich daran, und du bekommst langsam selber Panik, und sie schreit und weint und strampelt und spuckt, einfach um dieses wertvolle Gottesgeschenk des Lebens zu behalten. Für sie ist es so wertvoll und für dich so wertlos, jedenfalls bis jetzt. Und vielleicht stellst du jetzt das erste Mal fest, was für eine
riesige
Sache das Leben ist. Aber jetzt kannst du nicht mehr aufhören, und du stichst bloß immer weiter auf sie ein …»
«
Aufhören! Verdammter
…» Mit rotem, nassem Gesicht stürzte sich Hugo auf Syd.
Syd Spicer machte einen Schritt zur Seite und ließ Hugo beinahe sanft auf den Steinboden kippen. Über seine Schulter sagte er. «Würden Sie das tun, Merrily? Würden Sie im Auto auf mich warten? Aufpassen, ob jemand kommt?»
«Nein», sagte Merrily. «Ganz bestimmt nicht.»
57 Schwere Zeiten für Good Old England
«Die Linie», sagte Lol, «die Linie hier, von Whiteleaved Oak über all die Hügel und die Kirche von Wychehill … wie hat Winnie die entdeckt? Ist es eine Energielinie oder ein … Geisterpfad?»
Tim schwieg. Nur der Ruf einer Eule war zu hören. Lol dachte an Jane und Coleman’s Meadow.
«Ein Pfad, auf dem die Toten reisen können», sagte er. «Ich versuche nur, Ihnen zu helfen, sich zu erinnern.»
Tim begann vor und zurück zu schaukeln. Er war mit den Gedanken schon wieder woanders.
«Ich muss die Übungen machen.»
«Hat Winnie Ihnen Übungen aufgegeben?»
«Atemübungen und Meditation. War am Anfang ziemlich schwer, aber ich habe durchgehalten. Und dann … musste ich ihn mir beim Spazierengehen vorstellen. Und Mr. Phoebus. Wir haben ein Foto auf Lebensgröße vergrößern lassen und im Flur aufgehängt, sodass es aussah, als ob er gerade … einen Ausflug macht.»
«Und das haben Sie sich
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