Ein dunkler Gesang
frage mich, ob er glaubt, dass der Geist eines altmodischen Fahrradfahrers – ein Symbol für bessere, höflichere Zeiten – eher jemandem zuzuschreiben ist, der ein bisschen Öl ins Feuer gießen möchte.»
Sophie hob eine Augenbraue.
«So etwas kommt vor. Andererseits wusste Syd von Hannah Bradley.»
«Fanden Sie das überzeugend?»
«So überzeugend, wie so etwas sein kann.»
«Die junge Frau glaubt also wirklich an eine sexuelle Belästigung durch einen …»
«Ich würde es nicht so eindeutig ausdrücken, und sie tut das ebenfalls nicht. Sie hat sogar eine ziemlich pragmatische Haltung der Sache gegenüber. Und das ist einer der Gründe, aus denen sie so überzeugend wirkt.»
«Und was werden Sie jetzt tun?»
«Sämtliche Berichte miteinander vergleichen. Herauszufinden versuchen, ob auf dieser Straße jemals ein Radfahrer zu Tode kam. Wenn ich es mit einem bestimmten Menschen verbinden kann, wäre die naheliegendste Maßnahme eine schlichte Seelenmesse in der Kirche, und zwar mit so vielen Zeugen, die diesen Radfahrer gesehen haben, wie möglich. Und natürlich mit dem Pfarrer.»
«Ah ja.» Sophie nahm ihren Notizblock zur Hand. «Der Pfarrer.»
«Haben Sie etwas über ihn herausbekommen?»
«Vor acht Jahren ordiniert.» Sophie setzte sich ihre Lesebrille auf, die sie an einer Kette um den Hals trug. «Eingesetzt als Pfarrer von Wychehill und zweier weiterer Gemeinden im Herbst 2003 . Hat sich anscheinend mit seiner intensiven Jugendarbeit einen Namen gemacht. Davor hatte er eine Handelsvertretung für Sportyachten. Hobbys sind Bergsteigen und Geologie. Und davor die Karriere bei der Armee. Bei welchem Regiment er war, habe ich nicht feststellen können, aber wenn er in Hereford stationiert war, ist das ja auch nicht mehr notwendig.»
«Nein.»
Merrily dachte an Spicers auffällig gefühlsarme Reaktion auf den blutigen Unfall bei Wychehill, an den Minimalismus seiner Küche, an seine vollkommene Autarkie.
«Nach meinen Erfahrungen mit der SAS , Merrily, geben sie Informationen nur an offizielle Geheimnisträger heraus.»
«Wenn überhaupt.»
10 Schutzwall
Frannie Bliss gegenüber den
Royal Oak
zu erwähnen war, als würde man die Tür zur Ermittlungszentrale der Kripo aufschieben und eine Bombe durch den Türspalt werfen.
Sie saßen im Café beim Kreuzgang der Kathedrale und konnten durch ein spitzbogiges gotisches Fenster den Garten des Bischofs sehen. Bliss lächelte sein Schlauer-Fuchs-Lächeln, seine Finger waren mit Himbeermarmelade aus seinem Doughnut verschmiert.
«Das ist ein gerissener Hund, Merrily. Sein alter Herr ist Professor für Islamwissenschaften in Wolverhampton. Außerdem im Beraterstab des Innenministeriums. Und sein Spross macht es auch nicht schlecht, der sitzt nämlich im Rat für Gemeindebeziehungen in Worcester. Ach ja, und außerdem führt er eine Ethnokunst-Galerie in Malvern, in die sogar der Prince of Wales mal zur Vernissage gekommen ist.»
«Ja», sagte Merrily. «Ich bin sicher, dass der Prince of Wales dort einen sehr schönen Abend verbracht hat, aber …»
«Raji hat sich dermaßen gut ans System angepasst, dass der kleine Scheißer letztes Jahr als Redner zu der Tagung ‹Neue Richtlinien in der regionalen Polizeiarbeit› eingeladen wurde. Nachdem er vorher – das mag Sie nun überraschen oder nicht – mit meiner allseits geschätzten Chefin zu Mittag gegessen hatte.»
«Mit Annie Howe? Warum sollte mich das überraschen? Frannie, sagen Sie mir, wie das geht … Wieso wird so ein Typ zum Besitzer eines Dorfpubs in den Malverns?»
«Oh, und
dann
, nach der Tagung – an der Verwaltungsbeamte und andere nutzlose Anzugträger teilnahmen – wurde ich selbst dem jungen Mr. Khan vorgestellt. Er hat sich mir gegenüber richtig
herablassend
benommen, Merrily, eine Frechheit war das.»
«Oje.»
«‹Aus Liverpool, wie man deutlich hört, Sergeant›», Bliss parodierte das Näseln, das viele ehemalige Internatsschüler auf ewig kennzeichnete. «Das ist mal ein richtiger kultureller Quantensprung, was?»
«Er hat ‹Sergeant› zu Ihnen gesagt?»
Bliss lehnte sich zurück. Sein rotes Haar wurde an der Stirn schon etwas dünner, und an seiner Schläfe klopfte eine Ader.
«Mit vollem Namen heißt er Rajab Ali Khan. Siebenundzwanzig Jahre alt und führt – abgesehen von der netten Galerie – schon ein paar Nachtclubs in Worcester und Kidderminster. Und jetzt auch noch den ehemaligen
Royal Oak Pub
mitten in den wundervollen Malverns. Vermutlich hat er
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