Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
klingelte und klingelte, wie Telefone in dieser Nacht in ganz Oslo klingelten. Es klingelte überdies in Stockholm, Frankfurt, Mailand, Tokio, New York. Aus Filmen und Romanen wissen wir, dass das kein gutes Zeichen ist. Ein Telefon, das in der Nacht immer wieder klingelt, kündet von Tod und Unheil. Aber Arvid Lunde steht im Rikshospital und hält ein Baby im Arm, das Kind ist in eine blaue Decke gehüllt, es muss also ein Junge sein. Arvid Lunde hat einen Sohn bekommen und ist vollkommen blank. Er hat einen Sohn von 48 Zentimetern und 3260 Gramm bekommen, die Wall Street die Panik. Wenn die Osloer Börse am Morgen um 10:30 Uhr öffnet, wird er ein Mann im Minus sein. Er küsst seinen rosigen Sohn. Er umarmt Grace und geht hinaus in Regen und Sturm. Er verlässt das Rikshospital, und es ist ihm egal, dass der Mantel von Stafford und der Anzug von Topman nass werden. Er kann es kaum glauben, ein Sohn, ein Mirakel, ein Wunder an einem Montag. Der Junge wurde zwar mit einer kleinen Hasenscharte geboren, einem Kratzer an der Freude natürlich, aber der Arzt hatte versichert, Hasenscharten seien heutzutage eine Kleinigkeit, der Junge würde, sobald er operiert wäre, aussehen wie ein kleiner Prinz. Arvid Lunde taumelte in eine Kneipe in der Kristian Augusts Gate, die dank der neoliberalen Öffnungszeiten in Oslo nicht vor drei Uhr schloss. Arvid Lunde ist nass bis auf die Haut, das hellblaue Hemd trieft: Prost, guter Mann!, sagt er zu dem Barkeeper. Er schmeißt eine Runde, wählt einen Song aus der Jukebox, Get Out Of Your Lazy Bed , und fordert die erstbeste Frau zum Tanz auf. Sie lacht und hält ihn ein Stück von sich weg, weil er vor Regenwasser trieft, aber Arvid Lunde erklärt ihr, dass er happy ist, weil er gerade einen Sohn bekommen hat. Einen Sohn! Robby Lunde! Before I count to three, step to it, baby . Die beiden tanzen sich warm, und als die Kneipe schließt, stolpert Arvid in die Inkognitogate, wo das Telefon endlich verstummt ist. Die Person am anderen Ende hat resigniert, es ist nichts mehr zu machen, der Schwarze Montag ist da. Arvid Lunde schläft, während die Börsen abstürzen. Er legt den Kopf auf sein Kissen und taucht ein in den Schlaf. Er beginnt zu träumen, während sich die Panik ausbreitet. Die Makler sitzen auf ihren Bürostühlen, das Blut hinter den Schläfen pocht, die Füße berühren den Boden, sie klammern sich an die Tischkante, kneif mich mal, das ist nicht wahr, das ist einfach nicht wahr. Der Aufschwung an der Börse sollte von Dauer sein. Solange die Akteure machen durften, was sie wollten, und sich der Staat nicht einmischte, solange ginge alles gut. Seinem Wesen nach ist der Aktienmarkt nur für den Aufschwung geschaffen, die Börsen unterliegen nicht der Schwerkraft, die Börsen sind perfekt konstruierte Maschinen, von den besten Gehirnen entwickelt, von Spitzenkräften, die ihre Finanzinstrumente zurechtgestutzt haben, sie haben Futures , Forwards und Optionen erfunden. Jeden Tag meldet die Börse, der heutige Tag sei besser als der gestrige, und der morgige Tag werde noch besser sein als der heutige. Alles läuft wie am Schnürchen, es geht nach oben, himmelwärts. Aber an diesem Morgen stürzen die Makler zur Osloer Börse mit Verkaufspapieren unter dem Arm, sie rennen durch das Herbstlaub, das sich auf Bürgersteige und Autos gelegt hat, aber sie haben zu viele Restaurantmahlzeiten intus, zu viele langweilige Sitzungen in den Knochen, zu heftige Trinkgelage im Kopf, zu viele Taxifahrten, zu viel Muttermilch. Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt. An der Börse fallen sich die Leute gegenseitig ins Wort. Geld, das es gestern noch gab, gibt es heute nicht mehr. Aktien, an die gestern noch geglaubt wurde, sind heute nichts mehr wert. Um 11:30 Uhr wacht Arvid Lunde auf. Er fühlt sich reich. Er ist vollkommen blank. Das Telefon klingelt erneut, es ist CC, der wissen will, wo Arvid gestern war.
Stimmt was nicht?, fragt Arvid Lunde.
Am Tag nach dem Optimismus versammelt der Direktor seine Mitarbeiter im Vorstandszimmer von C. Conroy Sons & Co. Ein braun eingerichtetes Zimmer, kühl, etwas zu groß, sehr viel schwarzer Kaffee, schwarzer Kaffee aus der Philips-Kaffeemaschine. Der Direktor zeichnete bei der Sitzung mit den engsten Mitarbeitern die großen Linien, behauptete, die Geschichte und die Finanzen hätten etwas gemeinsam, sie würden von seltenen, unerwarteten Ereignissen dominiert, man könne nicht vorausberechnen, was passiert, weder an der Börse noch in der Welt.
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