Ein Engel im Winter
Dollar, auf die er so stolz war, weil er sie redlich verdient hatte, einem kleinen Tankstellenbesitzer überlassen.
Doch die Aussicht, alles zu verlieren, beunruhigte ihn seltsamerweise überhaupt nicht, denn inzwischen gab es Wichtigeres für ihn. Ehrlich gesagt, spürte er sogar eine gewisse Erregung, wieder auf null zurückzufallen. Man müsste wirklich zwei Leben leben dürfen, sinnierte er für einen Augenblick. Wenn das ginge, würde er wohl dafür sorgen, dieselben Fehler nicht noch einmal zu begehen. Er würde nicht auf seine Träume vom Erfolg verzichten, er würde lediglich auf andere Weise nach Erfolg streben. Er würde eine bestimmte Form der Eitelkeit aufgeben, weniger Zeit damit verbringen, sich über vergängliche und überflüssige Dinge aufzuregen, und sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Er würde vielmehr versuchen, »seinen Garten zu bestellen«, wie der Philosoph sagt.
Verdammt, ich sage das heute, weil ich weiß, dass ich sterben werde. Schluss jetzt, genug meditiert, befand er, als er auf seine Uhr schaute. Er rief seinen Banker an, um ihn zu bitten, seine Konten zu überprüfen.
»Hallo Phil, was macht die Wall Street?«
Phil Knight hatte ein paar Semester mit ihm studiert. Er war nicht unbedingt ein Freund, aber jemand, den er schätzte und mit dem er regelmäßig essen ging.
»Hallo Nat, wie heißt die nächste multinationale Firma, der du einen langen und teuren Prozess ersparen wirst? Hat Bill Gates dich immer noch nicht angerufen?«
Nathan vergewisserte sich zuerst, dass der Scheck, den Candice vor ihrem Tode eingereicht hatte, eingelöst worden war. Dann bat er Knight, alle seine Aktien und Obligationen zu verkaufen, weil er Bargeld brauche.
»Gibt es ein Problem, Nat?«, fragte der Banker, den die Aussicht, das Konto seines Kunden geplündert zu sehen, beunruhigte.
»Kein Problem, Phil, ich versichere dir, dass dieses Geld gut angelegt wird …«
Ist das wirklich die beste Lösung?, fragte er sich, nachdem er aufgelegt hatte. Solche Erpressergeschichten enden in der Regel nicht sehr erfreulich. Nicht die Höhe der Summe bereitete ihm Sorgen, sondern er fürchtete, dass der Erpresser niemals Ruhe geben würde, dass Leroy in sechs Monaten oder einem Jahr bei Jeffrey oder Mallory auftauchen würde. Das Problem bestand darin, dass dieser Typ seinen Film beliebig oft kopieren konnte.
Mit verschränkten Armen überlegte Nathan hin und her und drehte seinen Sessel nach allen Seiten. Er musste die richtigen Prioritäten setzen. Das Entscheidende in diesem Stadium bestand darin, zu verhindern, dass Leroy sich entschließen könnte, die Polizei zu benachrichtigen. Die Uhr über seinem Schreibtisch zeigte zehn Uhr zweiundzwanzig. Der Anwalt nahm den Hörer ab und rief Creed Leroy an.
Er wollte unbedingt herausfinden, aus welchem Holz dieser Mann geschnitzt war.
Nassau (Bahamas)
Etwas früher am Morgen
Creed Leroy hatte sich sehr früh am Morgen nach Boston begeben, um das erste Flugzeug nach Nassau zu nehmen. Nachdem er in der Hauptstadt der Bahamas gelandet war, teilte er sich den Pendelbus des Flughafens mit zahlreichen Touristen, die hergekommen waren, um Weihnachten in der Sonne zu verbringen.
In der Stadt dröhnte der Verkehrslärm. Der Minibus hupte, bevor er am Bürgersteig hielt, um die Passagiere aussteigen zu lassen. Creed fühlte sich wohl in dieser Menge. Er liebte die Anonymität der großen Städte und der unpersönlichen Orte. Als er die Bay Street hinaufging, die von alten Autos und Pferdekutschen für die Touristen vollkommen überfüllte Hauptstraße der Stadt, glaubte er, die Seele eines Chamäleons zu besitzen. Hier war er kein Tankstellenbesitzer mehr. Hier konnte er sein, wer er sein wollte.
Creed hatte beschlossen, die Rezepte zu befolgen, die er in den letzten Jahren in den Thrillern aus der Finanzwelt gelesen hatte. Sobald es sich um Geldwäsche oder ein Nummernkonto handelte, kam unvermeidlich Nassau mit seinen vierhundert Banken und Finanzinstituten ins Spiel. Es folgte zumeist die Beschreibung der opportunistischen Banker, die am Fiskus vorbei unbeaufsichtigt mit Millionen jonglierten und mit einem Mausklick horrende Summen von einem Steuerparadies ins nächste verschoben. Creed hatte sich immer gefragt, ob die Wirklichkeit der Fiktion ähnlich sein würde. Er sollte es bald erfahren.
Im Internet hatte er die Auskünfte zu Adresse und Telefonnummer der Zweigstelle einer Bank eingeholt, deren Angebotspalette ihn interessierte. Er hatte eine Mail
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