Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
sie mir die gebrauchten Servietten in die Hand, schob mich in die Küche und schloss mit dem Hinweis »Jürgen legt sich ʼne halbe Stunde hin. Sei bitte leise« die Küchentür.
Ich starrte aus dem Küchenfenster direkt auf Jürgens Versandabteilung, und in mir entwickelte sich das brennende Bedürfnis, einen Molotow-Cocktail direkt in diese blöde Firma zu werfen. Tränen liefen mir über die Wangen, und wie in Trance begann ich, die Pfannen und Töpfe zu spülen, das Geschirr in die Maschine zu stellen und den Herd und die Anrichte zu säubern. Ich schaute auf die Uhr. Fünf Uhr. Dana, Gitta, Anka und Carla saßen jetzt sicherlich im Eiscafé und hatten wie immer einen Riesenspaß miteinander. »Hasch-Gitta« ... Was bildete sich dieser Fatzke eigentlich ein?
Meine Mutter steckte den Kopf zur Tür herein. »Ach, und koch doch bitte schon mal den Kaffee. Die Plätzchen kannst du auf einen Teller legen, das sieht schöner aus.«
Auch diesen Auftrag erledigte ich. Ich betete innerlich, dass dieser Albtraum bald beendet sein würde.
Ich ging leise in mein Zimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch. Zu diesem Englischreferat hatte ich absolut keinen Nerv mehr. Ich kramte mein Tagebuch hervor und schrieb mir den Frust von der Seele. Mit einem Ohr horchte ich angespannt zum Flur. Bestimmt würde Jürgen gleich aufwachen, und bestimmt hatte diese Reise ins Nirwana noch kein Ende gefunden. Und richtig. Punkt halb sechs hörte ich Jürgens dunkle Stimme. Dreiundzwanzig Sekunden später stand er schon an der Wohnungstür und balsamierte meine Mutter verbal ein.
»Es ist schon so spät, Gundis, ich muss los. Und mach dich nicht so verrückt. Ich will dir keine Umstände bereiten. Tschüss Christine! Bis später!« Und weg war er.
Ich spürte das gleiche Gefühl der Erleichterung wie damals, wenn mein Vater sich die Schuhe polierte und die Haustür ins Schloss fiel.
»Beeil dich«, gellte der Ruf meiner Mutter in meine Richtung. »Du kannst den Kaffee wegschütten, und pack die Plätzchen vernünftig ein, sonst werden sie trocken.«
Ich funktionierte kommentarlos, kippte den Kaffee weg, spülte die Kanne aus, räumte den Filterbeutel aus der Maschine und verpackte die Plätzchen in ihrer alten Verpackung, die ich heimlich wieder aus dem Müll gefischt hatte. Hoffentlich war die Packung verseucht mit Milliarden von Bakterien, dachte ich bei mir.
Meine Mutter und ich düsten in die Stadt und eilten zum Herrenausstatter. »Du musst dann morgen einkaufen, das schaffen wir heute nicht mehr«, meinte meine Mutter lapidar. Von sechs bis halb sieben stand ich beim Herrenausstatter im Geschäft und beobachtete, wie meine Mutter völlig verzückt Pullover für Pullover in die Hände nahm, sorgfältig prüfte, ob sie auch weich genug waren, und ich beantwortete alle zweieinhalb Minuten die Frage »Wie findste den hier?« mit einem gleichgültigen »Auch schön«. Direkt gegenüber von diesem Geschäft war Hilde Schönbom, und ich träumte von den schönen Momenten, in denen ich mit Oma in diesem Wäschegeschäft stand, mir die Farbe meiner neuen Strumpfhose aussuchen durfte und die Verkäuferin dann den von mir sehnsüchtig erwarteten Griff unter die Ladentheke machte, um die kleine Ergee-Gummi-Ente hervorzuzaubern. Oma schaute sich bei diesen Gelegenheiten auch gern bei der Kinder-Unterwäsche um, und ich sah es ihr förmlich an, dass sie die sündhaft teuren Schiesser-Kombinationen gern für mich gekauft hätte. »Ach Oma«, seufzte ich leise vor mich hin, »ich hab dich so schrecklich lieb. Du fehlst mir!« Ich beschloss, gleich morgen die letzte Stunde Englisch zu schwänzen und stattdessen lieber bei Oma am Küchentisch zu sitzen und ihr mein Herz auszuschütten. Ich würde ganz einfach die Unterschrift meiner Mutter nachmachen, und vielleicht würde Frau Bergmann auch vergessen, dass ich eigentlich mit meinem Referat an der Reihe war. Ich schöpfte wieder Mut. Genau so würde ich es morgen machen.
»Bitte packen Sie ALLE Pullover ein. Ich nehme sie zur Auswahl mit und komme dann morgen wieder!« Der geschniegelte Verkäufer packte beflissentlich die zwölf Pullover in große Tüten, notierte den Namen meiner Mutter, und als er hörte, dass die Ware für ihren Freund Jürgen Karnasch sei, näselte er entrüstet: »Aber Gnädigste! Warum haben Sie denn nicht gleich gesagt, dass die Pullover für Herrn Karnasch sind? Da brauche ich mir doch keinen Namen aufzuschreiben. Bestellen Sie ihm unseren herzlichsten Gruß,
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