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Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Titel: Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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Bahngleisen.«
    »Das hört sich an wie ein Mann, der weint«, behauptete Callie.
    »Da hinten führt ein kleiner Pfad vom Weg ab«, sagte Richard. »Wenn wir ganz leise sind, können wir uns nah genug ranschleichen, um zu sehen, woher das Geräusch kommt.«
    »Wollen wir das denn unbedingt?«, fragte ich.
    »Wir sind hergekommen, um den Geist zu sehen, oder etwa nicht?«, sagte Richard.
    »Ich glaube nicht, dass das ein Geist ist«, sagte Callie.
    »Wenn wir vor einem Geist keine Angst haben«, folgerte Richard, »dann müssen wir erst recht keine Angst vor einem weinenden Mann haben, oder?«
    »Vermutlich nicht«, stimmte Callie ihm zu.
    Wir gingen zurück zum Weg und liefen ein Stück weiter. Richard führte uns auf einen Trampelpfad, der von Zweigen überhangen wurde. Wir mussten uns bücken, um vorwärtszukommen. Plötzlich verschwanden die Büsche, der Pfad wurde breiter und war nur noch von Kiefern gesäumt, die in ordentlichen Reihen gepflanzt waren und ihres Schicksals in Form einer Kettensäge harrten.
    Zwischen den Kiefernstämmen konnten wir eine Bewegung ausmachen. Wir schlichen näher, verließen den Schutz der Bäume jedoch nicht. Als wir schließlich anhielten und uns hinhockten, sahen wir, dass dort ein Mann stand. Er hatte uns den Rücken zugekehrt. Auf seinem Kopf saß ein Hut, und er grub ein Loch in die Erde. Neben ihm lag etwas Großes auf dem Boden, das in eine Decke gewickelt war. Beim Schaufeln stieß der Mann immer wieder diese Schluchzer aus.
    »Das ist mein Daddy«, sagte Richard. »Ganz sicher.«
    »Warum weint er?«, fragte ich.
    »Woher soll ich das wissen ... ich hab ihn noch nie weinen sehen. Wegen gar nix.«
    »Glaubst du, er vergräbt Geld?«
    »Was denn für Geld? Ich glaub das einfach nicht. Ich hab ihn noch nie so weinen sehen.«
    »Jeder weint mal«, sagte Callie.
    »Ich hab meinen Daddy noch nie weinen sehen«, wiederholte Richard.
    »Jetzt schon«, sagte Callie.
    Wir blieben hocken, wo wir waren, sprachen im Flüsterton miteinander, dann schwiegen wir. Mr Chapman hörte auf zu graben, ließ die Schaufel auf den Boden fallen, nahm eine Axt hoch und begann zu hacken. Nach einer Weile legte er die Axt beiseite, griff wieder nach der Schaufel und grub weiter. Schließlich warf er die Schaufel weg, zerrte die Decke samt Inhalt in das Loch und schüttete es mit Erde zu.
    Kurz darauf klopfte er mit dem Schaufelblatt die Erde fest, sprach ein leises Gebet, hob das Werkzeug auf und verschwand schluchzend im Wald.
    »Ich will nachschauen, was das war«, sagte Richard.
    »Vielleicht lassen wir das lieber«, wandte ich ein.
    »Wenn es meinen Daddy zum Weinen gebracht hat«, antwortete Richard, »dann will ich wissen, was es ist.«
    »Was denkst du, Callie?«, fragte ich.
    »Was ihr denkt, ist mir schnurz«, sagte Richard. »Ich geh nachschauen.«
    Vorsichtig schlichen wir uns an die frische Grube heran. Richard kniete sich hin und fing an, die Erde aufzubuddeln. Wir halfen ihm. Offensichtlich war es ein schweres Stück Arbeit gewesen, die Grube auszuheben, denn es wuchsen dicke Wurzeln kreuz und quer durch den Boden. Dafür hatte Mr Chapman die Axt gebraucht; in der Erde lagen lauter zerhackte Wurzelstückchen.
    Wir befanden uns auf einer kleinen Lichtung, über uns verdeckten keine Zweige den Himmel, und der Mond schien genau auf die Grube, sodass wir sehen konnten, was Mr Chapman hineingeworfen hatte. Es war eine Patchworkdecke.
    »Das ist eine Decke von meiner Mutter«, sagte Richard.
    »Sie ist hübsch«, bemerkte Callie. Dann schaute sie mich an, als könne sie selbst nicht fassen, was sie da gerade redete.
    Richard packte einen Zipfel der Decke und zog. Nichts geschah. Dann zog er kräftiger. Das Bündel bewegte sich. Ein Kopf kam zum Vorschein, und Mondlicht fiel auf ein mit Erde übersätes Auge.
     
    Es war der Kopf eines großen Hundes.
    Zuerst dachte ich, der Kopf sei ihm abgetrennt worden, aber er baumelte einfach lose am Genick.
    »Das ist Butch«, sagte Richard.
    »Warum begräbt er einen Hund?«, fragte Callie. »Abgesehen davon natürlich, dass er tot ist.«
    »Es war sein Hund«, erklärte ich.
    »Daddy hat wegen dem Hund geweint«, sagte Richard. »Er hat Butch geliebt. Verdammt. Ich wusste nicht, dass Butch tot ist. Allerdings war er auch schon ganz schön alt. Wahrscheinlich ist er einfach umgefallen ... Verflucht, er hat geheult!«
    Ich sah, dass Richard ebenfalls weinte. Im Mondlicht sahen seine Tränen aus wie Bernsteintropfen, die geschmolzen waren und sich gelöst

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