Ein Freund aus alten Tagen
ein überschwängliches Lächeln.
»Es fängt so wunderbar das Licht ein, finden Sie nicht?«
Natalie hob ihr Glas an die Lippen und betrachtete das Gemälde mit gerunzelter Stirn.
»Ich weiß nicht, aber ich finde, da fehlt etwas. Es gibt gute Gründe, sich zu fragen, ob Kunst, die nicht die Fragen unserer Zeit widerspiegelt, überhaupt eine Existenzberechtigung hat.«
Die Besucherin sah unglücklich von der einen zur anderen, während die Galeristin einen Punkt auf der Straße fixierte. Natalie trank noch einen Schluck Wein und fuhr im gleichen dozierenden Ton fort: »Jedem aufgeklärten Menschen ist heute bewusst, dass die konventionelle Kunst in dem bewussten Versuch produziert wird, die Aufmerksamkeit von den historischen Ungerechtigkeiten abzulenken. Es liegt im Interesse des Kapitals, Kunst zu unterstützen, die diese Funktion erfüllt.«
Die Besucherin lächelte zwar noch, aber mittlerweile schien das Lächeln zu schmerzen. Sie wandte sich wieder der Galeristin zu.
»Ich werde dann mal gehen, meine Liebe. Es war großartig. Danke!«
Als sie gegangen war, schloss die Galeristin von innen ab und hängte ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen an die Tür. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und betrachtete Natalie, die die übrig gebliebenen Kanapees in Augenschein nahm.
»Ich schließe jetzt, Natalie. Wolltest du etwas Bestimmtes?«
»Ich war nur neugierig auf die Ausstellung, Tantchen. Hast du noch welche von denen mit Pilzen?«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich für Kunst interessierst. Das hast du doch bisher nie getan.«
»Die mit Schinken sehen ein bisschen suspekt aus, aber ich habe wirklich einen Mordshunger, ich muss etwas essen.«
Sie stopfte sich eines in den Mund und kaute nachdenklich.
»Ich habe keine Zeit für deine Kapriolen.«
»Nicht schlecht. Aber wenn du noch welche mit Pilzen hast, dann …«
»Natalie, was willst du? Was soll dieser Unsinn? Du kannst hier nicht einfach auftauchen und mit deinem idiotischen Gerede meine Kunden verschrecken.«
Natalie setzte sich in einen Sessel, ließ den Arm auf der Lehne ruhen und hielt das Weinglas in einem lässigen Griff.
»Du verletzt mich, Tantchen, ja wirklich. Nur mein leidenschaftliches Kunstinteresse und unsere engen familiären Bande haben mich veranlasst, diesem ungemütlichen Herbstwetter zu trotzen.«
Die Galeristin verschränkte die Arme vor der Brust. »Für so etwas habe ich keine Zeit.«
»Ich hatte, ehrlich gesagt, gehofft, dass dich meine hochintelligenten Kunstkommentare ansprechen würden.«
»In meinen Ohren hörte sich das eher wie totaler Schwachsinn an. Hast du getrunken?«
»Nur ein Glas, aber ich bin ja auch gerade erst gekommen.« Sie hielt ihr Glas der Galeristin hin, die es mit einem Blick zur Tür ignorierte. Natalie zuckte mit den Schultern und ging zum Tisch, um sich Wein nachzuschenken. »Wenn du etwas aufmerksamer zugehört hättest, wäre dir nicht entgangen, dass es sich um fast wörtliche Zitate handelte.«
»Tatsächlich? Ich freue mich über dein frisch erwachtes Interesse an Kunst, aber ich fürchte, wir werden uns ein anderes Mal darüber unterhalten müssen.« Sie stellte die leeren Gläser auf ein Tablett, während Natalie sich wieder in den Sessel setzte und keine Anstalten machte, ihr zu helfen.
»Die Zeitschrift Veritas , frühe Sechzigerjahre. Kunstkennerin Tantchen, damals mit einem adligen Nachnamen, mittlerweile jedoch eingeheiratet in die neureiche Kesselflickerfamilie Petrini. Fällt der Groschen langsam?« Ihre Stimme war freundlich.
Die Galeristin kehrte ihr den Rücken zu, hörte jedoch auf, die Gläser einzusammeln.
»Natalie, du bist grauenhaft«, sagte sie und drehte sich plötzlich mit wutverzerrtem Gesicht um. »Warum schnüffelst du mir hinterher?«
Natalie schüttelte traurig den Kopf. »Du verletzt mich. Ich bin gestern rein zufällig über deine Artikel gestolpert und konnte es nicht erwarten, deine Erkenntnisse mit dir zu teilen. Wir Petrinis brauchen Bildung, da haben wir echten Nachholbedarf. Ich kann es kaum erwarten, beim nächsten Familienfest ausgewählte Passagen vorzulesen. Auch deine Artikel über die Verstaatlichung des Immobilienmarktes dürften meinen Vater und meinen Onkel interessieren. Dann würde es ihnen endlich erspart bleiben, ständig Mietshäuser zu kaufen und zu verkaufen.«
»Kein Mensch interessiert sich für diese alten Geschichten.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Es ist eine ebenso anerkannte wie bedauerliche Tatsache,
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