Ein Freund der Erde
Süßigkeiten ißt du doch gern, oder? Ich meine, Süßes ist ein Gemüse, stimmt’s? Vielleicht könnten wir deinen Speiseplan nur um Süßigkeiten herum gestalten, zum Beispiel Eier mit angebratenen Löffelbiskuits zum Frühstück, Erdnußwaffeln mit gebackenen Marsriegeln auf Roggenbrot zum Mittagessen, mit Schokoladenschmelz und Schlagsahne darüber? Oder Eiscreme – was ist mit Eiscreme?«
»Du machst dich über mich lustig. Ich mag nicht, daß du dich über mich lustig machst. Ich meine es ernst, Dad, wirklich ernst. Ich werde nie wieder einen Bissen Fleisch essen.« Sie zeigte verdammend mit dem Finger auf die Steaks. »Und das da esse ich ganz bestimmt nicht.«
Ich hätte die Sache anders angehen können, hätte ihr ihren Willen lassen und das Wissen anwenden sollen, das ich mit den vielen kleinen ernährungsbedingten Konfrontationen mit meiner Mutter gewonnen hatte, als ich in Sierras Alter war, ganz zu schweigen von meinem Vater und dessen spezieller Art von militanter Sturheit. Aber ich war nicht in Stimmung. »Du wirst es essen«, sagte ich und baute mich vor ihr auf, den Scotch in der Hand, einen beginnenden Kopfschmerz verspürend. »Oder du kannst an diesem Tisch aufs Essen warten, bis du stirbst. Weil mir das völlig egal ist.«
Die Steaks waren in der Pfanne, zentimeterdicke Fleischstücke, ich betrachtete sie und dachte zum erstenmal im Leben darüber nach, wo sie herkamen und dank welcher Verfahren ich und meine Tochter und jeder andere sie verzehren konnten, der an der Fleischtheke im A&P-Supermarkt sechs Dollar neunundneunzig pro Pfund dafür hinblätterte. Rinder litten, Rinder starben. Während ich Hamburger, Steaks und Rostbraten aß und mir nie das Gesicht der Kreatur vorstellen mußte, die all das für mich aufgab. Das war der Lauf der Welt, das war Fortschritt. Ich zuckte die Achseln und schob die Pfanne unter den Grill.
Sierra war in ihr Zimmer am Ende des Korridors abgezogen, das Zimmer, das ich als Junge bewohnt hatte, aber sie hörte keine Musik und kritzelte auch nicht in ihr Notizbuch oder raunte grausige Geheimnisse ins Telefon – sie lag einfach mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, und ihre Schultern bebten, weil sie leise in ihr Kissen weinte. Ich kannte diese bebenden Schultern, und normalerweise wurde ich bei ihrem Anblick schwach. Doch nicht an diesem Abend. Ich hatte meine eigenen Probleme, deshalb nahm ich sie nicht in den Arm und sagte ihr, es sei ja alles gut und sie könne essen, was sie wolle, Fruchtgummi zum Frühstück, Kokosmakronen am Mittag und Cremeschnitten zum Abendessen – nein, ich packte ihren Arm und zerrte sie in die Küche, wo eine gebackene Kartoffel auf dem Teller dampfte, daneben ein Schwung grüner Bohnen mit geschmolzener Butter und ein mitteldurch gebratenes Steak von der Größe Connecticuts.
Ich goß ihr ein Glas Milch ein, stellte meinen Drink ab und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. Ich griff nach Messer und Gabel. Ich schob mir einen Bissen Fleisch nach dem anderen in den Mund, tupfte meine Lippen mit der Serviette ab, schüttelte den Pfefferstreuer heftig über meinen Teller, mampfte grüne Bohnen, ertränkte meine Kartoffel in saurer Sahne und Butter. Gesprochen wurde nichts. Keinerlei Unterhaltung. Vielleicht habe ich gesagt: »Gutes Fleisch« oder etwas in der Richtung, eine kleine Stichelei, aber das war’s auch. Sie saß reglos da. Senkte nur den Kopf und starrte auf ihren Teller, wo Kartoffel und Bohnen unzweifelhaft von den Säften des Steaks kontaminiert waren, und auch die Milch, die sie ohnehin nie gemocht, sondern nur geduldet hatte, wurde ignoriert. Selbst als ich mich erhob, um meinen Teller abzuspülen und den Rest meines Drinks in den Ausguß zu schütten, blickte sie nicht einmal auf. Und später, als das Telefon wieder und wieder klingelte und ihre Freundinnen am anderen Ende ihr begierig ihre eigenen grausigen Geheimnisse mitteilen wollten, rührte sie sich nicht. Sie saß starr am Tisch, während vor den Fenstern allmählich das Tageslicht schwand, und als ich sie eine Stunde später im Dunkeln sitzen sah, schaltete ich das Küchenlicht ein.
Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen oder auch nur allzu lange ihren gesenkten Hinterkopf und die helle Linie ihres perfekt gezogenen Scheitels betrachten, denn ich war entschlossen, nicht weich zu werden. Wenn sie damit durchkam, hätte sie gewonnen, dachte ich, dann ginge es fröhlich los mit Junk-food und Süßigkeiten und von dort weiter zu Wachstumsstörungen,
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