Ein Freund der Erde
kaputten Zähnen und schlechter Haut, Jugendkriminalität, Schwangerschaft, Schuldenberg, Drogen, Alkohol, die ganze Abwärtsspirale. Um elf schlich ich in die Küche und sah, daß sie eingeschlafen war, den Kopf in das Nest ihrer Hände gebettet, das Essen beiseite geschoben, unangetastet und erhalten wie ein Teller unter Glas in einem Americana-Museum: Typische US-Mahlzeit, ca. 1987 . Ich nahm sie in die Arme und hob sie hoch, keinerlei Gewicht war zu spüren, als hätte ein einziges übersprungenes Abendessen sie bereits total ausgezehrt, und legte sie behutsam ins Bett, Decke bis ans Kinn, Küßchen auf die Wange, gute Nacht.
Am nächsten Abend gab es panierte Schweinekoteletts mit Kartoffelsalat, Sauerkraut, warmem Apfelmus und aufgewärmten grünen Bohnen. Sie sah nicht einmal hin. Was sagte ich dazu? Gar nichts. Sie saß nur am Tisch und machte ihre Hausaufgaben, bis sie einschlief, und diesmal ließ ich sie einfach dort sitzen. Am dritten Abend hatten wir Pizza mit Sardellen und Pilzen, ihre Lieblingssorte, aber auch die rührte sie nicht an. Da ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Ich brüllte und drohte, knallte die Türen, spannte sie auf die Schuldgefühlsfolter und erhöhte den Druck: Glaubte sie denn, daß es leicht war für mich, ohne Frau, von einem elendlangen Arbeitstag nach Hause zu kommen und noch die Küchenschürze umzubinden, nur für sie? Hä? Glaubte sie das?
Am vierten Tag ihres Hungerstreiks bekam ich einen Anruf der Schulkrankenschwester: sie war im Sportunterricht beim Seilklettern ohnmächtig geworden und vier Meter tief auf den Boden der Turnhalle gefallen. Nichts gebrochen, aber sie brächten sie trotzdem zur Vorsicht ins Krankenhaus zum Röntgen, und ob sie in letzter Zeit genug gegessen hätte? An den Fenstern glänzten Wasserperlen. Sevry Peterson, die Besitzerin des konkursreifen Papierwarenladens im Einkaufszentrum, saß vor meinem Schreibtisch im hoffnungslosen Chaos meines Büros und erklärte mir gerade, wieso sie mit der Miete sechs Monate im Rückstand war. Ich winkte ab, packte meine Jacke und ließ den Mustang die ganze Fahrt bis ins Krankenhaus röhren.
Sierra saß im Wartezimmer, als ich eintraf, und wirkte verdrießlich in ihren Leggins, den dicken Stricksocken und dem viel zu großen rosaschillernden T-Shirt, das sie unbedingt alle drei Tage anziehen mußte. Zu ihrer einen Seite saß Mrs. Martini, die Schulkrankenschwester, auf der anderen ein riesiger fetter Mann in Sandalen und einem schmutzigen weißen Sweatshirt. Der fette Kerl betupfte sich dauernd die Stirn mit einem blutgetränkten Stück Stoff und stöhnte leise vor sich hin, und Mrs. Martini war starr wie eine Leiche und las im People Magazine . Sierras Blick hellte sich auf, als sie mich hereinkommen sah, wurde aber sofort wieder kalt, als ihr einfiel, daß Fleischessen gleich Mord und ich, ihr Vater, der schlimmste aller Mörder war. Und was dann?
Dann fuhren wir nach Hause, und sie rührte in ihrem restlichen Leben nie wieder ein Stück Fleisch an.
Macs Haus – sein Lustschloß, sein Versailles, seine überdachte Stadt – wurde in den Neunzigern erbaut, jener letzten Ära des Exzesses in einer Reihe von vielen. Es verfügt über drei Speisesäle, achtzehn Schlafzimmer, zweiundzwanzig Badezimmer, das bereits erwähnte Geschenkeverpackungszimmer, einen Theatersaal, Fitnesscenter, Schwimmbad, Sporthalle, Bowlingbahn, nicht zu reden von der Garage für zwanzig Autos und etliche Gästehäuser, die in dem verstreut stehen, was einst eine gepflegte Gartenanlage war. Es gibt genügend Platz für alle – Andrea, April Wind, den Geist von Sierra, Dandelion, Amaryllis und Buttercup, Flüchtlinge von den Apartmentbauten (obwohl sich noch keine gemeldet haben und der Sturm weiterwütet), die beiden Als, Mac und seine Sammlung von Gazemasken, sogar für Chuy ist Platz, der aber darauf besteht, in der Garage unter dem Oldtimer-Dodge zu schlafen. Und, wie ich gerade feststelle, es gibt auch Nahrung. Mac hat mich am Arm aus dem Speisezimmer gezogen, und jetzt folge ich seinen herabhängenden Schultern einen langen Gang entlang zu einem Fahrstuhl mit Türen aus gehämmertem Messing. »Es ist unten«, sagt er, zieht eine Maske aus der Tasche und hält sie mir hin.
Was soll ich sagen? Ich nehme die Maske und streife sie mir wortlos über. Meine Rolle hier ist die des zornigen alten Mannes, und ich lasse meine mächtig funkelnden Augen das Reden übernehmen. Wir fahren hinunter, dann öffnen sich die Türen auf einen
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