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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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da, und das bedeutet volles Programm: wenn wir wegen dieses erbarmungslosen meteorologischen Kataklysmus, der Tag und Nacht auf alles niederpeitscht, was nicht drei Meter tief in der Erde vergraben ist, nicht draußen für Weihnachten dekorieren können, dann tun wir’s eben drinnen.
    Absoluter Schwachsinn in meinen Augen. Was gibt es denn zu feiern? frage ich mich. Daß wir letzte Woche achtundvierzig Stunden Erholung vom Regen hatten? Daß April Wind ein Buch über Sierra die Märtyrerin schreiben will und ich dabei ihr Hauptinformant bin, der noch dazu nicht abhauen kann? Daß Lily sich an ihre neue Umgebung so gut gewöhnt hat, als wäre sie zwischen Holzpaneelen geboren? Und daß die steinharten Kadaver von Rindern, Schweinen und Truthähnen uns, wie’s aussieht, noch das gesamte Jahrtausend hindurch ernähren können? Beschissene Aussichten, würde ich sagen. Das Ende ist nah. Wie die Menschen närrisch sind!
    Wir alle tragen immer noch Masken, obwohl wir ebensogut auf einem Korallenriff leben könnten, soviel Kontakt haben wir mit der Außenwelt, und wenn ich nicht gerade mit April Wind die Vergangenheit exhumiere oder zusehe, wie Andrea sich an Mac ranschmeißt, versuche ich für die Tiere zu sorgen. Chuy und ich kriegen es halbwegs auf die Reihe, alle zu füttern, finde ich, aber die Ernährung ist nicht das eigentliche Problem. Fortpflanzung in Gefangenschaft – das war immer unser vordringlichstes Ziel, von Anfang an – ist praktisch unmöglich unter diesen Bedingungen. Wir haben ja keinerlei Zugang zu den Tieren – es ist einfach zu riskant, eine befestigte Holztür behutsam zu öffnen, wenn die Kreaturen dahinter nicht garantiert taub, blind oder sediert sind. Auch das Saubermachen können wir vergessen, zu gefährlich, vor allem bei Lily, Petunia und den Löwen – und man würde sich wundern, wie griesgrämig und boshaft selbst ein Warzenschwein werden kann. Da öffnet man die Tür zur Bowlingbahn und hört zunächst gar nichts, weder Schnaufer noch Hechler, aber einen halben Herzschlag später bohren sich einem beinahe mehrere Stoßzahnpaare wütend in die Gonaden. Irgendwann in der Trockenzeit, falls so etwas je wiederkehrt, wird Mac die Teppiche und die angepißte Holzverkleidung herausreißen lassen und alles verbrennen müssen, das war’s dann. Und danach können wir wieder von vorn anfangen, mit neuen Gehegen und neuen Tieren – oder wenigstens neuem Zuchtmaterial.
    Aber zurück zu Weihnachten, denn Weihnachten wird hier gefeiert – Überschwemmung, Mucosa und aufgebrachte Vierbeiner hin oder her. Al & Al, die keinen erkennbaren Nutzen oder Auftrag mehr haben, da kilometerweit niemand da ist, vor dem sie Mac beschützen könnten, sind vom Dekorationsausschuß kooptiert worden (gemeinsamer Vorsitz Mac und Andrea), um an den Wänden Lichterketten und Engel aus Alufolie zu befestigen. Es erscheint mir alles – ich weiß nicht, irgendwie verkümmert . Und traurig. Die sinnentleerte Zeremonie eines vergessenen Stammes. Weihnachten bedeutet mir gar nichts, außer vielleicht im Negativen: das Fest der Dinge und der Völlerei, zündet die Kerzen an und schändet den Planeten gleich noch mal. Ende des letzten Jahrhunderts kamen sogar die Japaner auf den Trichter, die allerdings interpretierten die Festtage als genau das, was sie waren – Shopping von früh bis spät und sonst nichts.
    Ich weiß, ich weiß. Als ich ein Kind war, feierten wir Weihnachten, wegen meiner Mutter, und da enthielt dieses Wort einen Zauber – es bot Erlösung. Hoffnung. Und mehr als das: es bot eine Begründung, für uns und die Tiere und die Pflanzen und alles andere. Das ist lange her. Lange vorbei. Und obwohl ich absolut praktisch veranlagt und unsentimental bin, so bar jeder Illusion wie ein Gefangener der Mohawks, als ich den Korridor entlanggehe und zum erstenmal die Engel aus Silberfolie von der Decke baumeln sehe mit ihren zerknitterten glitzernden Flügeln, da kann ich mich kaum beherrschen, meine Atemmaske nicht vollzuflennen. Tolles Geständnis, was?
    Tatsächlich stehe ich im Erdgeschoß in der Halle, bin total gerührt, es ist zehn Uhr morgens, und wir haben noch acht Einkaufstage bis Weihnachten, als Chuy hinter einer lebensgroßen Elvis-Statue aus Marmor auftaucht und auf seine flinke, zielbewußte Art über den persischen Läufer herbeiwieselt. Seiner Körpersprache – gesenkter Kopf, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, die wie eine Gartenschere auf den Teppich einstampfenden Füße – entnehme

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