Ein Freund der Erde
gehört hat. Ich hab noch nie im Leben ein Tier gejagt, nicht, um es zu töten – da halte ich es mit Thoreau: »Kein Mensch wird, wenn er einmal das gedankenlose Knabenalter hinter sich hat, mutwillig ein Geschöpf morden, das mit dem gleichen Recht am Leben hängt wie er selbst« –, aber jetzt bin ich sofort bei dem Gewehr, schiebe die Patronen in die Kammer und ziele probehalber über den Lauf.
Andrea (nur halb wach): »Ty?«
Ich: »Mmh?«
Andrea: »Du willst doch nicht...? Was tust du da? Ist das ein Gewehr?«
Ich (grimmig, eiskalt, hart wie die Schwielen an den Füßen eines Fakirs): »Ich gehe jagen.«
Das ist natürlich eine Pose. Ich bin gar nicht so hart. Niemand ist das. Außer vielleicht Ratchiss. Und Teo – der verstorbene Teo, und wieso ergötzt es mich eigentlich so, mir diese Wendung auf der Zunge zergehen zu lassen? Aber ich habe keine Illusionen: Lily wird sterben müssen, die Teilmantelgeschosse werden ihr ein Loch reißen, in das man ein Lexikon stecken kann, dabei ist Lily eine von... na, zwei-, dreihundert der letzten ihrer Art auf der Welt. Ich kenne sie fast von Anfang an, als sie aus dem Zoo von Los Angeles kurz vor dessen Schließung als verschmuddelte Einjährige zu uns kam, und sie war für mich da, als Andrea es nicht war. Wie viele leckere Stückchen hab ich ihr in diesen zehn Jahren schon hingeworfen, wie viele überfahrene Viecher, wie viele Hühnerrücken? (Und falls ihr noch nie einer Hyäne einen Hühnerrücken hingeworfen habt – wie soll ich auch nur annähernd die Befriedigung beschreiben, wenn man das Zuschnappen der eisernen Kiefer hört, das Schlucken, den Anblick der Effizienz dieses Tiers, meines Tiers, das frißt und gedeiht und langsam zum Ebenbild des zottligen wilden Wesens wird, das schon durch die Olduvaischlucht getrottet ist, als wir noch werkzeuglose Affen waren und unser Fleisch roh hinunterwürgten?) Von Lily sprechen wir hier, von Lily – ebensogut könnte ich Rin Tin Tin abknallen.
Wieder draußen in der Halle, auf der Pirsch jetzt, Chuy hinter mir. »Mr. Ty«, flüstert er, »soll ich vielleicht das Drahtnetz holen, sí ?« Und dann, als ich nicht antworte: » No le va a disparar – Sie wollen Lily doch nicht erschießen, Mr. Ty, no ?«
Ich beiße nur die Zähne zusammen – jedenfalls was von ihnen übrig ist.
»Das Betäubungsgewehr, porqué wir können ihr nicht einfach einen Schuß verpassen?«
Ich pirsche weiter. Geduckt und mit den schmerzenden Rückenmuskeln eines Mannes in den Siebzigern, das Gewehr in meinen schwitzenden, schwachen Händen schwer wie ein Stapel Ziegelsteine, die Augen tränen, hören kann ich auch kaum noch etwas, und ich habe einfach keine Energie, ihm zu antworten. So ein Tier betäubt man nicht einfach, nicht auf so kurze Distanz – selbst wenn es gelänge, Lily gut zu treffen, würde sie mir noch das Gesicht wegfetzen, ehe die Droge ihr die Kraft aus den Beinen zöge, und noch vor dem ersten Gähnen hätte sie längst den Kopf in meinen Eingeweiden vergraben. Das hier ist kein Patagonischer Fuchs. Keine Naht im Krankenhaus. Hier geht es um alles oder nichts. Gute Nacht, das war’s, und Schluß und aus.
Oben ist alles ruhig. Die Schlafzimmertüren sind fest geschlossen, die Energiesparröhren glimmen in ihren Halterungen, es regiert die Stille. Ich spreche nicht mit Chuy, und er spricht nicht mit mir. Wir atmen mühsam, die Luft stockt uns in den Nasenlöchern, ein unglaublicher Gestank nach Hyäne: Urin, Exkremente, verwesendes Fleisch. Das Geschenkeverpackungszimmer ist linker Hand vor uns, drei Türen noch. Mehr als alles auf der Welt wünsche ich mir, daß diese Tür zu ist, daß Chuy sie mit einer anderen verwechselt hat, daß alles nur falscher Alarm ist, ein Schabernack auf meine Kosten, nur ein kleiner, folgenloser Anlaß für Gelächter bei Kaffee und Keksen. Aber so ist es nicht, eindeutig nicht, Leute, denn wir sind jetzt nahe genug dran, um zu sehen, daß die Tür tatsächlich offensteht, weit offen, bis auf die Angeln aufgeklappt wie ein großes zahnloses Maul.
Ich erstarre zur Salzsäule. Meine Beine fühlen sich an wie frisch abgesägt und verkehrt herum wieder angesetzt, die Finger sind steif, und ich glaube, ich kriege einen Herzanfall. Und die Büchse ist jetzt schwer wie eine Feldhaubitze. »Der Stuhl da«, flüstere ich und deute mit dem Kinn zuerst auf Chuy und dann auf eine unbezahlbare Antiquität aus den Neunzigern, einen Stuhl aus Chrom und schwarzem Plastik, bis Chuy endlich kapiert und
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