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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ich, daß er zu mir will, und zwar, weil irgend etwas völlig unerwartet und völlig hoffnungslos schiefgegangen ist. »Mr. Ty«, ruft er, und seine Augen laufen ihm schon wieder davon, »sage ich das nicht so gerne, aber la puerta del cuarto de regalos – Tür vom Geschenkeverpackungszimmer? – ist offen. Weit offen.«
    Was geht mir da durch den Kopf? Lily natürlich. Fast zwei Meter lang von der Schnauze zum Schwanz, gut siebzig Kilo schwer, der große graue Kopf geformt wie ein Amboß, schwarze Streifen an den Beinen. Die Massigkeit, das Fell, das abgesenkte Hinterteil, die ungelenk wirkenden Beine – aber man lasse sich nicht vom Schein trügen. Dieses Tier erreicht in kürzester Zeit eine Geschwindigkeit von knapp fünfzig Stundenkilometer, und es läuft die ganze Nacht hindurch, eine von der Evolution entworfene Freßmaschine, schlicht und einfach. Keine Moral, keine Ethik. Sehen, töten, fressen – so lautet das Motto der Gattung Hyaenidae . Und nun steht die Tür offen, weit offen, und das erhoffte, erflehte Wunder mit der Chance von eins zu tausend – daß sie schnarchend und vollgefressen inmitten eines Haufens abgenagter Knochen und Geschenkpapier noch im Zimmer liegt – ist nicht unbedingt, womit ich rechne. Dafür ist sie zu schlau. Zu hinterhältig. Zu wild.
    Mein erster Impuls besteht darin, auf meinen fünfundsiebzig Jahre alten Beinen die Treppe hinaufzusausen und selbst nachzusehen, vielleicht sogar die große Mahagonitür zuzuknallen und den Schlüssel umzudrehen, aber ich unterdrücke ihn. So würde ein ungestümer Vierzigjähriger handeln – vielleicht sogar ein eigensinniger Mann von fünfzig oder sechzig. Klar doch. Und sich dabei den Kopf zermalmen und die Gedärme aus dem Leib reißen lassen. Nein, in mir spricht die Weisheit des Alters (das Leben mag beschissen sein, aber wozu soll es hier aufhören, ehe die Geschichte zu Ende ist?), und meine schmerzenden Füße tragen mich den Gang entlang in Richtung der Hintertreppe, neben mir Chuy, hastend und mit unergründlicher Miene. Ist er besorgt, ängstlich, erregt? Bei Chuy ist das schwer zu sagen. Seine Augen sind wie Trickspiegel, und dieses bekloppte Goldplombengrinsen legt er niemals ab, egal was passiert. Allerdings sind wir auf der Hut, alle zwei – in solchen Dingen gehen wir immer konform –, und schleichen uns so leise wie möglich durch den Korridor zum Grunge Room.
    Ein paar Meter vor der Tür bleiben wir beide abrupt stehen: etwas stimmt hier nicht. Etwas stimmt ganz und gar nicht: auch diese Tür ist nur angelehnt. Auf einmal durchfährt mich schiere Panik. Mein Herz pocht, meine Augen brennen – Essig, als hätte mir jemand Essig in die Augen geschüttet –, und ich kann nicht mehr schlucken. Ich war es. Meine Schuld. Ich bin alt und vergeßlich, ein Narr und noch Schlimmeres, denn ich muß die Tür offengelassen haben, als ich Jeans und Stiefel angezogen habe und auf den Gang hinaus zum Frühstück gewankt bin. Andrea, denke ich, Andrea, während ich mich in die heulende Weite dieses stillen, unbewegten Zimmers hineinbeuge und nach dem Lichtschalter an der Wand neben der Tür taste. Ich finde ihn nicht, jedenfalls nicht sofort, weil ich hier nur Gast bin, weil meine Finger zittern, weil ich alt bin und zurück in mein eigenes Haus will, zu meinen Habseligkeiten, und weg von alledem hier.
    Der Raum ist höhlenartig tief und hoch. Ich kann überhaupt nichts erkennen. Das Wetter ist so mies, daß man ohnehin kaum die Nacht vom Morgen unterscheiden kann, aber Andrea läßt die schweren Brokatvorhänge zugezogen, um jeden Schimmer Tageslicht abzuwehren, bis sie sich aus dem Bett schleppt, was meist gegen Mittag geschieht. Da liegt sie, ein hyänengroßer Berg in der Mitte des Bettes, und all die Geschichten von afrikanischen Hexen, die ihre Gestalt wechseln und die Form des verstohlenen Grabräubers annehmen, fallen mir ein und verfolgen mich (»Großmutter, was hast du für große Zähne?«), bis sie plötzlich einen durchdringenden Altladyschnarcher ausstößt und ich wieder Atem schöpfe.
    Dann doch der Lichtschalter, und ich sehe, daß das Zimmer leer ist, bis auf Andrea, Kurt Cobains Haarlocke und den Stapel von modernen Artefakten, der meine irdische Habe darstellt: all das aus dem Gästehaus geborgene Zeug, das ich in einer Ecke aufgetürmt habe. Mitten in dem Haufen aber liegt auch, ordentlich geschmiert und gereinigt mit einem in Waffenöl getunkten Lappen, die Zwölf-Millimeter-Nitro, die einstmals Philip Ratchiss

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