Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
dicke Äste der alten Bäume. Die knarrten manchmal im Wind, weil sich einige aneinander rieben. Das hörte sich schauerlich an.
Überreizte Nerven, sonst nichts. Trotzdem war ihr Herz fast stehengeblieben, als die Schritte auf der Treppe näher kamen, als die Klinke heruntergedrückt wurde – und schließlich Frau Lindner im Zimmer gestanden hatte, das Gesicht von dem Kerzenleuchter in ihrer Hand unwirklich beleuchtet. Sie hatte den Schrei aus dem ersten Stock gehört und war gleich hinaufgestiegen, um zu helfen.
Obwohl das Bild des nächtlichen Schattens auf dem Rasen immer noch in Henrietta lebendig war, schämte sie sich für ihre Angst und die hysterische Reaktion. Sie würde niemandem davon erzählen, es war zu lächerlich. Flüchtig ging ihr durch den Kopf, dass Frau Lindner so tief in der Nacht – die kleine Taschenuhr hatte zwei Stunden nach Mitternacht angezeigt – nicht in Nachtgewand und Morgenmantel, sondern vollständig angekleidet in ihrem Zimmer gestanden hatte.
Aber Frau Lindners Gewohnheiten in Zeiten schlechten Schlafs mussten sie nicht kümmern, und sie hatte nun anderes zu tun. Wichtigeres. An diesem Morgen war sie entschlossen, sich an das zu erinnern, was sie ihren Vater gerne gefragt hätte. Also hatte sie es plötzlich sehr eilig gehabt, aufzustehen. Sie wollte sich auf die Suche nach dem machen, was gewesen war: nach der eigenen Vergangenheit, ihren ersten fünfzehn Jahren, und nach dem, was in diesem Haus seit ihrer Übersiedelung nach England geschehen war. Erinnern bedeutete bewahren. Nichts schien in diesen Stunden wichtiger.
Sie hatte nie bedacht, ob ihr Vater sie vermisst oder sogar gebraucht hatte. Sie wusste nicht einmal, ob ihn in seinen letzten Wochen eine Krankheit gequält hatte. Starb man einfach so? Er war ein alter Mann gewesen, aber sie kannte weit ältere, die weder gebrechlich noch leidend waren. Es wäre furchtbar, nun zu erfahren, dass er ihren Beistand gebraucht hätte, ohne dass sie es wusste. Ohne dass sie auch nur daran gedacht hatte. Aber sie wollte es wissen.
Sie war daran gewöhnt, alleine zu frühstücken, seit Thomas oft auf Reisen war, und mochte die stille erste Stunde des Tages. Heute hatte sie Frau Lindner bitten wollen, sich zu ihr zu setzen und gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken. Doch sie hatte zu lange geschlafen, die Hausdame war schon ausgegangen.
Sie werde bald zurück sein, versicherte das Mädchen, als es den Tee aus der Küche brachte. Auch sie war für Henrietta ein neues Gesicht. Keiner der dienstbaren Geister, an die sie sich erinnerte, hatte zuletzt noch für ihren Vater gearbeitet. Das Mädchen hieß Birte, wie sie knicksend erklärte, sie stammte vom südlichen Elbufer und war seit einem halben Jahr in diesem Haus im Dienst. Nein, sie wusste nicht, was aus ihrer Vorgängerin geworden war, die sei nun wohl verheiratet, Frau Lindner habe so was gesagt.
Die Hausdame, ein Mädchen für Küche und Bedienung – zumindest den Diener musste es noch geben.
Früher hatten Hausdame und Gouvernante, ein Diener und wenigstens ein Mädchen ständig im Haus gewohnt. Der Gärtner und Frauen für die groben Arbeiten und die Waschtage wohnten mit ihren Familien im Dorf und waren stunden- oder tageweise ins Haus gekommen.
«Die Köchin ist alle Tage außer Sonntag hier», erklärte Birte, als habe sie Hettys unausgesprochene Fragen gehört, «sie wohnt hinter der Kirche, das sind ja nur ein paar Schritte. Heute ist sie mit Frau Lindner unterwegs, wegen der Einkäufe. Für die gnädige Frau muss doch ordentlich gekocht werden.»
Hetty brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass sie die ‹gnädige Frau› war. In diesem Haus, an diesem Morgen fühlte sie sich wieder viel zu jung.
«Aber eigentlich ist Frau Lindner hier die Köchin», plapperte das Mädchen weiter, «sie kann einfach alles .»
«Und der Diener?»
«Ich glaube, Sie fragen besser Frau Lindner. Sie hat es nicht gern, wenn ich mich zu lange … also, es soll mich nicht kümmern, was die Herrschaften tun oder lassen.»
«Natürlich nicht.» Hetty verbarg ein Lächeln hinter der erhobenen Teetasse. Sie wusste gut um die Autorität und die Macht, die eine Hausdame oder eine Köchin für die anderen Dienstboten bedeuteten. Ganz besonders für junge Mädchen, frisch vom Land. «Wir wollen Frau Lindner nicht verärgern.»
«Und Sie wollen wirklich keine Eier? Wir haben ganz frische, und Frau Lindner sagt, in England essen alle Spiegeleier zum Frühstück. Tee und Spiegeleier und Toast
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