Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Kinder.»
«Ach, das verstehe ich. Ich habe sie immer so beneidet, diese Kinder vom Fluss. Weiter die Alster hinauf sahen wir auch oft welche. Immer barfuß und wunderbar schmutzig, keine Gouvernante.» Claire seufzte sehnsüchtig. «O weh», sagte sie dann vernünftig, «was ich da plappere, ist dumm, nicht wahr? Heute sollte ich es besser wissen, aber damals kamen mir diese armen Mädchen und Jungen so beneidenswert vor. Wahrscheinlich haben sie uns aus gutem Grund nicht gemocht. Wenn ich mich richtig erinnere, haben sich Ernst und einer der Jungen sogar mal tüchtig geprügelt. Erstaunlich, was mir plötzlich alles wieder einfällt. Emma war da noch viel zu klein, aber ich war dabei. Wo mag Felix gewesen sein? Jedenfalls habe ich mich schrecklich gefürchtet. Ich kann mich nicht erinnern, wer gewonnen hat. Vielleicht ist es unentschieden ausgegangen. Jedenfalls hat Ernst mich gezwungen, seine Schrammen zu Hause mit einem Sturz über irgendwelche Wurzeln zu erklären. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das irgendjemand geglaubt hat. Oder doch, Ernst haben sie es bestimmt geglaubt, bei Felix», sie lächelte verschmitzt, «hätte es anders ausgesehen. Aber bei aller Furcht fand ich das ein fabelhaftes Abenteuer.»
Sie lehnte sich, immer noch lächelnd, in die Polster zurück, und Hetty entdeckte in der mit einer unkleidsamen Brille altjüngferlich erscheinenden Claire das Mädchen, das voller Neugier und in Erwartung eines bunten Lebens in die Welt geblickt hatte.
Brooks lenkte die Kutsche an den Rand der Chaussee und hielt neben dem ersten der beiden großen Friedhofstore.
Er zog die Bremse an, zurrte die Zügel fest, sprang vom Bock und bot erst Hetty, dann Claire die Hand zum Aussteigen.
Hetty fühlte sich plötzlich sehr klein und sehr starr. Sie hätte gern geweint und sich in den Polstern der Kutsche zusammengerollt wie ein kleiner Hund. Oder wie ein kleines Mädchen, das weiß, wo es Schutz findet. Aber sie war kein kleiner Hund, und sie war schon lange kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine Witwe auf dem Weg zum Grab ihres Mannes.
Also straffte sie den Rücken und schob selbst das Tor auf, es knarrte leise. Es klang abweisend, als störe sie.
«Möchtest du lieber allein gehen?», hörte sie Claires sanfte Stimme.
Es duftete nach Eiben, Zedern und Fichten, auch nach modernden Kränzen und spätsommerlich vergehenden Blumen.
Hetty schüttelte den Kopf. Da zog Claire ihre Handschuhe aus und nahm Hettys Hand. Als sie den Weg zwischen den Gräbern entlanggingen, die eine im schwarzen, die andere im lichtgrauen Kleid, beide von dunklen Hüten beschattet, sahen sie aus wie Schwestern.
* * *
Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie jemals auf diesem Stuhl gesessen hatte. In dem alten Ledersessel, auf dem samtbezogenen Sofa, doch nie auf dem hochlehnigen Stuhl vor dem Sekretär. Es fühlte sich nicht falsch an, nur fremd. Sie lehnte sich zurück und legte behutsam die Arme auf die Lehnen – es war gut. Als sei das nun ihr Platz. Es war ihr Platz. Bald vielleicht ganz und gar. Wenn sie sich entschlösse, hierzubleiben. Sie musste nachdenken. Nach Bristol zurückkehren und ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen? Ihr gewohntes Leben gab es nicht mehr.
Sie ließ den Blick durch den Raum wandern. Alles war vertraut, nichts war verändert, seit sie das Haus und ihre Kinderwelt verlassen hatte. Die anderen Mädchen im Pensionat hatten von tränenreichen Abschieden erzählt, vom mit Tapferkeit ertragenen Schmerz, ihr Zuhause, ihre Eltern und Geschwister verlassen zu müssen. Sie hatte dazu stets geschwiegen. Sie hatte ihren Papa mehr vermisst, als sie sich vorgestellt hatte; weniger seine Worte, gemeinsame Unternehmungen oder Besuche, als einfach seine Gegenwart, das Rascheln seiner Zeitung, den Geruch seiner Zigarre oder des nur für ihn besonders dunkel getoasteten Brotes, seine Stimme. Aber sie hatte sich auf das Leben in Bristol gefreut, weil Marline Siddons sie dort erwartet hatte.
Leichter Sommerwind wehte durch das weit geöffnete Fenster murmelnde Stimmen herein. Da stand Claire und beugte sich unter ihrem Sonnenschirm über eine von weißblühenden Bauernnelken eingefasste Rabatte, Alma Lindner stand neben ihr, steif, wie gewöhnlich, die Hände vor der Taille gefaltet, das Kinn vorgereckt.
Frau Lindner hatte sie erwartet, der Tee und ein frisch gebackener, nach Zimt und Muskat duftender English Cake voller kandierter Früchte hatten bereitgestanden. Die Wahl des Kuchens hatte Hetty gerührt. Würde
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