Ein Gespür für Mord - Detective Daryl Simmons 1. Fall
leise zu singen. Es war ein monotoner Gesang, die Worte überliefert aus grauer Vorzeit. Vor seinem geistigen Auge sah er zunächst einen grauen Nebel, der sich nach einigen Minuten langsam zu lichten begann. Hinter dem Nebel, der eigentlich der Rauch eines Feuers war, saß eine Gestalt. Sie war ebenfalls nackt, saß ebenso wie er ihm Schneidersitz vor einem Lagerfeuer und summte leise vor sich hin. Daryl erkannte einen alten, weißbärtigen Eingeborenen mit breiten, rissigen Lippen, die sich langsam zu einem zufriedenen Lächeln verzogen. Es war Ungjeeburra. Daryl, der bis zu diesem Moment den Schock des Hubschrauberabsturzes so gut es ging, verdrängt hatte, durchlebte noch einmal den Schrecken der vergangenen Stunden, doch diesmal war er nicht allein. Ungjeeburra war bei ihm, hielt wie mit unsichtbaren Fäden Kontakt zu ihm und verhinderte, dass Daryl erneut in Panik geriet.
Die Fähigkeit der australischen Ureinwohner, über weite Entfernungen mit anderen Stammesmitgliedern in telepathische Verbindung zu treten, war ein Phänomen, das in einschlägigen Fachkreisen immer wieder behandelt wurde, aber nie befriedigend geklärt werden konnte. Daryl hatte es längst aufgegeben, sich über diese Frage den Kopf zu zerbrechen. Er war überzeugt, der Verstand eines Weißen würde dieses Rätsel ohnehin nie lösen können.
Er selbst hatte oft versucht, auf diese Art mit Ungjeeburra in Kontakt zu treten, bisher allerdings ohne großen Erfolg. Vielleicht lag es daran, dass er nie die Blätter der Mingulpa, einer Pflanze mit starker halluzinatorischer Wirkung gekaut hatte, wie es die Pintubi taten, wenn sie sich in Trance versetzen wollten. Nur ein einziges Mal war es ihm zuvor gelungen, so etwas wie eine telepathische Verbindung mit Ungjeeburra herzustellen. Es war der Tag gewesen, an dem er erfahren hatte, dass seine Verlobte Michelle nicht mehr lebte. Grenzenlose Verzweiflung, unbändige Wut und schließlich tiefe Traurigkeit hatten ihn in die Wüste getrieben, wo er sich unter einen Mulga-Baum setzte, die Augen schloss und nur noch den Wunsch verspürte, zu sterben.
Der Wind sang mir deine Gedanken, hatte ihm Ungjeeburra später erzählt. Daryl wusste nicht, wie es der alte Aborigine gemacht hatte. Aber Ungjeeburra, der zu diesem Zeitpunkt über vierhundert Kilometer von ihm entfernt war, hatte mit ihm gesprochen, hatte ihm Mut gemacht und ihm mit seiner Nähe geholfen, nicht aufzugeben.
Daryl hatte Michelles Mörder gefasst. Aber die Narben, die ihr Verlust hinterlassen hatte, waren geblieben.
Wie damals saß er nun draußen im Busch, allein und aufgewühlt. Und wie damals sprach Ungjeeburra zu ihm, beruhigte ihn und half ihm, alles wieder im richtigen Licht zu sehen.
Er war hierhergekommen, um diesen Fall zu lösen. Nun ja, nicht nur. Er war auch hier, um herauszufinden, ob er noch weiter Polizist sein wollte. Manchmal sehnte er sich einfach nur danach, mit Ungjeeburra durch die Wüste zu ziehen, ohne festes Ziel, losgelöst von all den Zwängen, die ein Leben in der Zivilisation mit sich brachte. Eines Tages würde er diesen Schritt vermutlich auch tun. Doch so weit war es noch nicht.
Daryl war gern Polizist, doch er war im Busch zu Hause, nicht im Großstadtdschungel. Er war kein Stadtcop, das wusste er schon seit Langem. Und Chief Garratt wusste das ebenfalls. Aus diesem Grund hatte ihn die Killertomate sicherlich auch auf diesen Fall angesetzt. Doch Garratt war bestimmt auch klar, dass er Daryl nicht von seiner Absicht abbringen konnte, seinen Job an den Nagel zu hängen, nur indem er ihn auf Mount Keating auf einen Fall ansetzte, der genau auf Daryls Ermittlungstaktiken zugeschnitten war. Garratt führte irgendetwas im Schilde, und langsam wurde Daryl neugierig, was es war.
Zwei Tage später war Daryl bereits wieder in der Luft. Die Maschine, die er flog, war eine Bell 47G und gehörte Pater O’Donnell. Der Sicherheitsgurt hatte ihn zwar beim Aufprall auf das Wasser im Pilotensitz festgehalten, auf seinem Bauch aber einen schmerzhaften Bluterguss hinterlassen, der ihn beim Fliegen etwas behinderte. Außerdem zierte eine stattliche Beule seine Stirn, und seine Rippen fühlten sich an, als hätte ihm ein großes Graukänguru einen Tritt verpasst – aber davon ließ sich Daryl nicht aufhalten.
Nachdem ihn ein Suchtrupp, bestehend aus Poison-Joe und einigen Eingeborenen gefunden hatte, war er zur Station zurückgekehrt. Alle waren schrecklich besorgt um ihn gewesen, ganz besonders Mrs. Sharp, Meena und
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