Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
hat sie alle zusammengeführt? Vor Ergriffenheit fast gelähmt, vermag Siegmund kaum einen Schritt nach vorn zu tun. Ein Cherubim zwischen den Erzengeln. Er stolpert dorthin, wo Geschichte gemacht wird. Vielleicht wollen sie ihn hier haben, weil sie nichts unternehmen wollen, ohne einen Repräsentanten der kommenden Generation von Regierenden um seine Zustimmung gebeten zu haben. Ich werde an dieser Sache teilhaben. Was immer es ist. Sein Selbstbewußtsein steigert sich enorm, und er vermag jetzt so aufzutreten, wie es seiner Bedeutung entspricht. Dann aber bemerkt er, daß einige Leute zugegen sind, von denen man eigentlich nicht annehmen sollte, daß sie zu einer so wichtigen politischen Versammlung zugezogen werden. Rhea Freehouse? Paolo, ihr gleichgültiger Mann? Und diese Mädchen, nicht mehr als fünfzehn oder sechzehn, in feine Gazenetze oder noch weniger gehüllt: Mätressen der Großen. Es ist allgemein bekannt, daß sich die Administratoren von Louisville Mädchen für besondere Zwecke halten. Aber hier? Jetzt? Wo sie alle am Abgrund der Geschichte stehen? Nissim Shawke begrüßt Siegmund, ohne sich zu erheben, und sagt: »Willkommen auf unserer Party. Nenn deine Droge, wir haben vermutlich etwas davon da. Tingle, Millispans, Multiplexer, alles.«
Party? Ein Fest?
»Ich habe den Bericht hier. Die historischen Daten – der Soziocomputator…«
»Laß das jetzt, Siegmund. Verdirb uns nicht den Spaß.«
Spaß?
Rhea kommt auf ihn zu. Taumelnd, mit verzerrtem Gesicht, offenbar unter Drogeneinfluß. Doch ihr klarer Verstand dringt selbst jetzt noch durch. »Du hast vergessen, was ich dir gesagt habe. Sei etwas lässiger, Siegmund.« Sie flüstert. Küßt seine Nasenspitze. Nimmt ihm den Bericht aus der Hand, legt ihn auf Freehouses Arbeitstisch, hebt ihre Hände an seine Wangen; ihre Finger sind feucht. Sollte mich nicht wundern, wenn sie Flecken auf mir hinterläßt, Wein, Blut oder irgend etwas. »Einen glücklichen Tag der somatischen Erfüllung!« sagt Rhea. »Wir feiern. Du kannst mich haben oder eins der Mädchen oder Paolo oder wen immer du willst.« Sie kichert. »Oder auch meinen Vater. Hast du jemals davon geträumt, es mit Nissim Shawke zu treiben? Sei doch kein Spielverderber.«
»Ich bin hierher gekommen, weil ich deinem Vater ein wichtiges Dokument übergeben sollte und…«
»Ach, denk jetzt nicht daran«, sagt Rhea und wendet sich von ihm ab, ohne ihre Enttäuschung zu verbergen.
Tag der somatischen Erfüllung. Das hatte er ganz vergessen. Die Festlichkeiten werden in ein paar Stunden beginnen; er sollte dann bei Mamelon sein. Aber er ist hier. Soll er gehen? Sie starren ihn an. Er möchte sich am liebsten verstecken. In dem wogenden psychosensitiven Teppich versinken. Verdirb uns nicht den Spaß. Seine Gedanken sind noch immer bei seiner Arbeit. Während die zufällige bzw. rein biologische Bestimmung des Geschlechts von ungeborenen Kindern normalerweise sich ausweist in der zu erwartenden statistischen Verteilung in einer relativen Größe von… Entfernung des Elements des Zufalls führt die Gefahr ein, daß… Die Erfahrung hat in der früheren Stadt Tokio zwischen 1987 und 1996 gezeigt, daß die Anzahl der weiblichen Nachkommen abnahm um einen Traktor von fast… Die Party, so stellt er bei genauerem Hinsehen jetzt fest, ist eine Orgie. Er hat schon an Orgien teilgenommen, aber nie mit derart hochgestellten Leuten. Rauch steigt auf. Der nackte Monroe Stevis. Ein Durcheinander von fleischigen Mädchen. »Komm schon«, ruft Kipling Freehouse, »mach dir einen Spaß draus! Nimm dir ein Mädchen, Siegmund, irgendein Mädchen!« Gelächter. Ein übermütiges Mädchen steckt eine Kapsel in seine Hand. Er zittert, und die Kapsel fällt zu Boden. Andere Mädchen ergreifen ihn und ziehen ihn mit sich. Noch immer strömen Leute herein. Der würdige, elegante Lewis Holston hat auf jedem Knie ein Mädchen sitzen, ein weiteres kniet vor ihm. Nissim Shawke fragt ihn: »Willst du denn überhaupt nichts haben? Armer Siegmund. Wenn du in Louisville leben willst, wirst du lernen müssen, ebenso gut zu spielen wie zu arbeiten.«
Er urteilt über ihn. Prüft seine Verträglichkeit: Wird er in die Reihen der Elite passen, oder wird er zurückgewiesen werden zu den Kulis, in die mittleren Ebenen der Bürokratie? Siegmund sieht sich schon nach Rom versetzt. Sein Ehrgeiz übernimmt die Initiative. Wenn das Kriterium seiner Aufnahme darin besteht, wie er spielen kann, dann wird er eben spielen. Er grinst.
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