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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Intellektualismus gleichzustellen. Jedoch existierte da etwas in der westlichen Welt, das die Kommunistische Partei verwirrte und erschreckte: das weitverbreitete Autodidaktentum. Sogar ein Neger, der, wie ich, in Unwissenheit und Ausbeutung gefangen war, konnte, wenn er Lust und Liebe dazu hatte, lesen und die Welt verstehen lernen, in der er lebte. Und diese Menschen wurden von den Kommunisten nicht verstanden.
    Die Verhandlung begann in ruhiger und formloser Weise. Die Genossen benahmen sich wie eine Gruppe von Nachbarn, die zu Gericht saßen über einen von ihnen, der ein Huhn gestohlen hatte. Jedermann konnte sich zum Wort melden und sprechen. Es herrschte absolute Redefreiheit. Dennoch war die Sitzung auf eine ihr eigene, erstaunlich formgerechte Art und Weise aufgebaut, eine Art, die so weit zurückging wie das Verlangen der Menschen nach einem Zusammenleben.
    Ein Mitglied des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei stand auf und gab eine Schilderung der Weltlage. Er sprach ohne jede Gefühlsbetonung und reihte nur nackte Tatsachen aneinander. Er malte ein furchtbares, aber meisterhaftes Bild der faschistischen Aggression in Deutschland, Italien und Japan.
    Ich sah ein, warum die Verhandlung auf diese Weise begann. Es war geboten, daß hier klargestellt wurde, gegen wen oder was die Verfehlungen von Ross begangen worden waren. Daher mußte allen Anwesenden ein lebendiges Bild der unterdrückten Menschheit gegeben werden. Und es war ein wahrheitsgetreues Bild. Wahrscheinlich besitzt keine Organisation der Welt außer der Kommunistischen Partei eine so detaillierte Kenntnis davon, wie die Arbeiter leben, denn deren Informationen stammen ja direkt von den Arbeitern selbst.
    Der nächste Sprecher untersuchte die Rolle der Sowjetunion als des einzigen Arbeiterstaates der Welt – wie die Sowjetunion ringsum von Feinden umgeben sei, wie sie sich zu industrialisieren suche, welche Opfer sie bringe, um die Arbeiter der Welt durch die Idee der kollektiven Sicherheit auf den Weg des Friedens zu führen.
    Die bisher vorgebrachten Tatsachen waren so wahr, wie nur irgend etwas in dieser ungewissen Welt wahr sein konnte. Doch nicht ein Wort war über den Angeklagten gefallen, der dasaß und zuhörte, wie jedes andere Mitglied. Die Zeit war noch nicht gekommen, auch ihn und seine Vergehen in dieses Bild globaler Kämpfe einzubeziehen. Etwas Unumstößliches mußte zunächst in den Hirnen der Genossen aufgerichtet sein, damit sie Erfolg und Mißlingen ihrer Taten daran messen konnten.
    Schließlich trat ein Sprecher vor und sprach vom Chicagoer Südbezirk, seiner Negerbevölkerung, deren Leiden und Schwierigkeiten, indem er all dies gleichzeitig mit dem Weltkampf in Verbindung brachte. Dann folgte ein weiterer Redner und schilderte die Aufgaben der Kommunistischen Partei des Südbezirks. Schließlich waren das Bild von der Welt, das der Nation und das der näheren Umgebung zusammengeschweißt zu einem überwältigenden Drama geistigen Ringens, an dem jeder im Saal teilhatte. Diese Einführung hatte mehr als drei Stunden gedauert, hatte aber ein neues Wirklichkeitsgefühl in den Herzen der Anwesenden entstehen lassen, ein Gefühl für den Menschen auf dieser Erde. Mit Ausnahme der Kirche und ihrer Mythen und Legenden gab es niemanden auf der ganzen Welt, der so sehr fähig war, Menschen das Gefühl für die Erde und ihre Bewohner zu vermitteln wie die Kommunistische Partei.
    Gegen Abend wurden die direkten Anklagen gegen Ross vorgebracht, nicht etwa von den Parteiführern, sondern von den Freunden von Ross, von jenen, die ihn am besten kannten! Es war niederschmetternd. Ross schrumpfte zusammen. Sein Gemüt konnte dem Gewicht des moralischen Druckes nicht standhalten. Niemand wurde durch Terror gezwungen, Aussagen gegen ihn abzugeben. Sie gaben sie willig, führten Daten an, Unterhaltungen, Vorfälle. Die dunkle Masse seiner übeltaten kam langsam und unwiderlegbar zum Vorschein.
    Es trat der Moment ein, da Ross sich verteidigen sollte. Mir war berichtet worden, daß er für Freunde gesorgt hatte, die zu seinen Gunsten aussagen sollten, doch er forderte keinen dazu auf. Zitternd stand er da; er versuchte zu sprechen und brachte kein Wort hervor. Im Saal herrschte Totenstille. Die Hände bebten. Seine Schuld schrie aus jeder Pore seiner schwarzen Haut. Er hielt sich an der Tischkante fest, um nicht den Halt zu verlieren. Seine Persönlichkeit, das Gefühl seiner selbst, war in ihm erloschen. Dennoch hätte er nicht so

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