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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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Empfangsschaltern und ohne Sicht auf die Welten, die sich auftun würden, wenn er hier endlich die Fliege gemacht hatte, aber er hatte jetzt Aufgaben und eine Verantwortung, und er trug die kolossale Last des Schicksals eines wirklichen, lebenden, atmenden menschlichen Wesens auf seinen Schultern (auch das natürlich nur bildsprachlich).
    Jimmy war mit ihm zur Stopera gegangen, und Theo hatte getan, was er tun konnte – war das die Hölle, die die Lebenden schon seit Jahrtausenden in Gedichten, Skulpturen und Gemälden zu fassen versuchten? War die Hölle die überwältigende Erfahrung der Ohnmacht im Angesicht des Leidens? Vielleicht war die Hölle nicht das Feuer, in dem der Sünder selbst brennen sollte, sondern die Nähe zum Feuer, in dem der andere brannte – der andere in all seiner nackten Verletzbarkeit. Es kam zu dem außergewöhnlichen Phänomen, dass der brennende andere den Beobachter (Engel oder nicht) nicht unberührt ließ, im Gegenteil, dass es herzzerreißend war, das Leiden des anderen mit anzusehen und keine Möglichkeit zu haben, das Feuer zu löschen und zu trösten. Theo konnte, von Jimmy angeleitet, auffangen und trösten und zur »Aufnahme« weiterleiten. Die Einsamkeit des soeben Gestorbenen war unerträglich. Noch immer waren jene ersten panischen Momente nach Theos eigenem Seelenaustritt ein schwarzes Loch in seiner Erinnerung, nachdem er zunächst alles haarscharf wahrgenommen hatte und Boujeri einige Augenblicke lang gefolgt war. Wer hatte ihn von dort weggeführt und zur Aufnahme gebracht? Welcher SE ler hatte versucht, seine ersten Verzweiflungsausbrüche zu mildern?
    Liebe, arme Menschen, dachte Theo zum ersten Mal in seinem Leben. Ob sie mittelmäßig oder langweilig oder bieder waren, klang hier nach lächerlich überkommenen Maßstäben. In ihrer allernacktesten Verlassenheit waren die Neuankömmlinge ebenbürtig – das war das Erschütternde in jenen Stunden gewesen, die Theo rund um die Stopera zugebracht hatte –, alle liebenswert. Er empfand so viel Mitleid, dass er sich fast darin auflöste. War das die Essenz des Prozesses, den er hier zu durchlaufen hatte?
    Seine Stadt zitterte vor Angst. Auf die Stopera folgte eine Flugzeugentführung, und Jimmys Meinung nach war das womöglich nicht die letzte Katastrophe. SE ler wie Theo, die diesem Distrikt zugeordnet waren, würden kaum zur Ruhe kommen. Ihr Mitgefühl würde auf die Probe gestellt werden. Wie die Feuerwehr und andere Rettungskräfte waren die SE ler in höchsten Alarmzustand versetzt worden. Man musste sein gesamtes verfügbares Mitgefühl aufbieten, bis nichts mehr von einem übrig blieb.
    Und dann, als Theo nach der Hölle bei der Stopera in sein Kasernenzimmer zurückgekehrt war, kam der Moment, da Jimmy eintrat und ihm etwas brachte, was Theo ganz leicht ums Herz werden ließ, so er denn eines gehabt hätte.
    »Du bist jetzt kompetent, Theo. Ich habe dich beobachtet und gleich Bericht darüber erstattet. Du hast getan, was du tun musstest. Du hast getröstet. Du hast versucht, Schmerzen zu lindern. Das ist es, worauf sich ein Mensch in einem Kosmos voller Leiden konzentrieren muss. Und Schutzengel noch mehr als die Lebenden. Du hast dich von deiner besten Seite gezeigt. Beim Opernhaus hast du die Arme ausgestreckt und den Gestorbenen getröstet. Du bist jetzt ein ganzer Engel. Und deshalb…«
    Er zog etwas hervor, was er die ganze Zeit hinter seinem Rücken versteckt hatte. Flügel. Wunderschöne weiße Flügel im weißesten Weiß, das Theo je gesehen hatte, transparent wie Glas, leicht wie Luft, zart wie der feinste Samt. Und sie hefteten sich an seine Schulterblätter (die er nicht hatte, aber wie hätte er es anders beschreiben können?), und er konnte sie bewegen, als seien sie seit seiner Geburt dort gewesen, und er erhob sich und fühlte sich so frei und befreit, wie er sich nie zuvor gefühlt hatte.
    Auf seinen Engelsflügeln verließ Theo die Kaserne, einfach durchs Dach hindurch, wie es schien, und er ließ sich von den Wolken aufnehmen und segelte darüber hinaus in das Blau der Atmosphäre, und er sah diesen lieblichen, verletzbaren Globus, den er mit seinen Flügeln umfassen und hätscheln konnte, und er empfand die tiefste Liebe, die ihm je zuteil geworden war, nein, er wurde eins mit ihr, und er flog über die Ozeane und um Wolkenkratzer herum und über Wüsten und zwischen den Stämmen der Riesenmammutbäume hindurch, und er segelte mit den Adlern, und er war außer sich vor Freude und Liebe, und

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