Ein gutes Herz (German Edition)
möchtest«, sagte Leon zu mir.
»Okay. Ich find’s gut«, sagte ich. Und das meinte ich auch so.
Aber was war mit meinem biologischen Vater? Den hatte ich in der Stadt gesehen, der war auch am Muntplein gewesen. Ich hatte nicht mehr daran gedacht, seit ich wach war. Das war gestern Abend gewesen. Da war alles so verrückt in der Stadt. Mama holte mich mit dem Fahrrad am Leidseplein ab. Wir redeten noch kurz über den Mann, als ich bei ihr auf dem Gepäckträger saß. Mama sagte, dass ich vergessen sollte, was ich gesehen hatte.
»Kein Wort mehr darüber«, sagte sie. »Vergiss ihn. Ich möchte nicht, dass du an ihn denkst und er eine Rolle in deinem Leben spielt. Er ist ein schlechter Mensch. Deshalb habe ich nie etwas von ihm erzählt, verstehst du?«
»Er heißt Max Kohn«, sagte ich, während ich mich an ihr festhielt.
»Ich möchte diesen Namen nicht hören!«, brüllte Mama.
»Aber er ist doch mein Vater!«
»Rein biologisch schon, ja. Aber das ist auch alles! Verstehst du, was ich damit meine?«
»Ja.«
»Leon ist mehr ein Vater für dich, als es dieser Mann je war. Und darüber kannst du froh sein. Der Mann ist ein Verbrecher. Ein Ganove!«
»Immer noch?«, fragte ich.
»Ja! Das hört nicht auf! Manche Menschen werden schon als Verbrecher geboren. Er wurde so geboren. Mit einer Wut, die ihn zum Verbrecher gemacht hat!«
Das Letzte verstand ich nicht. Aber sie redete schon von was anderem, dass ich eigentlich Strafe verdient hätte, aber dass sie diesmal, wegen der »speziellen Umstände«, ein Auge zudrücken würde.
»Was denn für spezielle Umstände?«, wollte ich wissen.
»Na, all das, was um uns herum passiert! Ich finde das alles ziemlich unheimlich!«
»Ich nicht!«, rief ich.
Es war echt spannend überall. Vielleicht hatte ich deswegen so tief geschlafen. Weil ich müde war. Und beim Frühstück beschlossen wir nun auch noch, dass Leon zu uns ziehen würde. Wir hatten in dem Haus Platz genug, das war kein Problem. Aber er war schon immer sehr da, wenn er da war – dürfte wohl klar sein, was ich damit meine. Er redete ziemlich viel. Machte dauernd irgendwelche Bemerkungen, wenn er die Zeitung las oder sich die Nachrichten im Fernsehen anguckte und so. Er fand immer sämtliche Leute bescheuert oder dumm oder faschistisch oder antisemitisch. Ich bin Jude, ich weiß also, was das bedeutet. Meine Bar Mizwa muss ich noch machen, ich hatte in Amsterdam jeden Donnerstagnachmittag Unterricht bei einem Rabbiner. Der war total blass und hatte einen roten Bart und ganz dünne Finger. Leon hat auch seine Bar Mizwa gemacht, und mein richtiger Vater, der ist auch Jude. Ein jüdischer Ganove, der wütend auf die Welt gekommen war, hatte Mama gesagt. Klang ein bisschen verrückt. Was faschistisch ist, hatte ich nie gegoogelt. Wenn Leon das Wort das nächste Mal benutzte, würde ich das machen.
Lias Geburtstags-Tag war kein sonniger Tag. Der Himmel war grau, und es war ein bisschen kalt. Draußen auf der Straße sah alles so aus wie immer. Viele Radfahrer und Straßenbahnen und Autos und auch viele Fußgänger. Ich fuhr zwischen Mama und Leon, wir fuhren hintereinander, zu dritt nebeneinander geht nicht. Ich stellte mir vor, dass vielleicht Leute auf der Straße waren, die jemanden in der Familie hatten, der in der Stopera gewesen war, aber das konnte man ihnen nicht ansehen. Ich wusste auch nicht, ob noch Leute im Flugzeug gesessen hatten, Touristen, meine ich.
»Leon! Sind noch Leute in dem Flugzeug?«
Leon fuhr hinter mir. Er japste jetzt schon, denn er war ein bisschen zu dick fürs Radfahren. Er sagte immer, dass er lieber spazieren ging, aber ich hatte ihn noch nie spazieren gehen sehen. Ich glaube, er hockte am liebsten an seinem Laptop, einem alten schwarzen MacBook. Er war ein Mac-Freak, genau wie Mama und ich.
»Das ist unklar!«, antwortete er. »Keiner will was darüber sagen! Aber laut Gerüchten sind acht Matrosen an Bord! Die sollten auf ein niederländisches Kriegsschiff gehen, das in einem türkischen Hafen liegt! Die Entführer haben sie nicht gehen lassen!«
»Haben die denn keine Gewehre bei sich?«, fragte ich.
»Nein! Man darf keine Waffen mit an Bord nehmen!«
»Und der Flugkapitän? Hat der eine Waffe?« Ich wusste, dass man den, der das Flugzeug flog, so nannte. Auf Englisch hieß er captain, mit ai.
»Keine Ahnung. Er hat jedenfalls keinen Gebrauch davon gemacht!«
Als wir in die Straße kamen, in der meine Schule ist, nicht weit vom Concertgebouw entfernt, war dort
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