Ein gutes Herz (German Edition)
früh würden sie auf Mofas mit Fahrradtaschen steigen und auf unterschiedlichen Wegen zum Vondelpark fahren. In den Fahrradtaschen steckten Zeitungen, die schon ein paar Tage alt waren. Hardcore-Terroristen stellten ja nicht kurz vor dem Anschlag noch eben den Telegraaf oder die Volkskrant zu. Man würde sie nicht anhalten.
In der Garage in West warteten sie darauf, dass es Zeit für das Frühgebet wurde. Unruhig lagen sie in ihren Schlafsäcken. Das war jetzt der Tag der Tage. Sallie würde seinem Vater zeigen, wozu er fähig war. Dieser dämliche Frits hatte dafür gesorgt, dass der Unterweltmörder frei war! Einen Vorteil hatte das allerdings, wie Sallie plötzlich bewusst wurde: Kicham O. konnte nun zu Hause live im Fernsehen verfolgen, was sich sein Sohn ausgedacht hatte. Seinen Schlachtplan würden Terrorbekämpfer noch viele Jahre lang studieren. Sallie hatte das Prinzip des zeitlich gestaffelten Angriffs perfektioniert, wie ein Topstratege. Eine Dreistufenrakete. Das vollgetankte Flugzeug mit Mohamed B. an Bord würde um sieben Uhr Richtung Zentralasien abheben, und sie würden um neun Uhr die Schule einnehmen. Die Maschine würde dann in den niederländischen Luftraum zurückkehren, und das Spektakel würde beginnen.
Das war nicht irgendeine Schulbesetzung. Diese Grundschule wurde von Kindern der in Amsterdam-Süd wohnenden Elite besucht. Der Elite, die die Medien und die Banken beherrschte. Der Elite, die das politische Geschehen zu ihren Gunsten beeinflussen konnte. Vor anderthalb Jahren war die Mutter von einem der Kinder dieser Schule gekidnappt worden, man hatte sie direkt um die Ecke von ihrem Fahrrad gepflückt. Ihre Familie besaß Hunderte von Millionen. Die Polizei hatte sie in Belgien wiedergefunden, lebend. Seither wurde die Schule bewacht. Überall hingen Kameras, und Sicherheitsleute behielten morgens und mittags jedes vorbeifahrende Auto, jeden Radfahrer, jeden Fußgänger im Auge. Sie trugen keine Uniform, waren aber bewaffnet. Ihre Schulter- und Hüftholster waren deutlich erkennbar. Ein Anschlag von der Straßenseite her würde gleich viele Opfer fordern. Über den Keller war das Ganze effektiver. Sie wollten keine Toten. Die Opfer, die es in der Stopera gegeben hatte, waren der Trägheit der dortigen Sicherheitsleute zuzuschreiben. Sallie trug seiner Meinung nach keine Verantwortung dafür, aber es tat ihm trotzdem leid. Er hatte ständig ein flaues Gefühl im Magen, als habe sich dort ein saugendes, nagendes Tier versteckt, das sich von Zeit zu Zeit mit scharfen Zähnen in seinem Herz festbiss. Er hatte das nicht gewollt.
Auf dieser Schule waren auch Kinder reicher Juden. Die würden Tauschobjekt sein. Und der blonde Faschist, der jetzt irgendwo in einem schwer bewachten Haus, von Bodyguards umringt, in seinem Bett schnarchte, wusste nicht, dass heute sein letztes Stündlein schlagen würde.
22
THEO
Und dann brach der Tag an, da es ernst wurde. Theo van Gogh, SE , hatte alle Prüfungen bestanden, während er rauchte wie ein Schlot und sich die Hucke vollsoff. Einen so atypischen Schutzengel hätten sie lange nicht mehr gehabt, witzelte Jimmy.
Als hauptamtlicher SE ler konnte Theo sich nicht mehr in seinem Kasernenzimmer rumdrücken und dem Selbstmitleid hingeben. Er hatte eine ernsthafte Aufgabe zu erfüllen. Er musste über seinen Klienten Max Kohn wachen und sich seine Energie für den Moment aufsparen, da sie wirklich vonnöten sein würde. Theo lernte andere SE ler kennen, man sah sie, wenn man wollte. Viele Lebende hatten einen, aber die SE ler waren nicht alle gleichermaßen zielstrebig und energisch. Alle gaben ihr Bestes, so war es nicht, aber die Unterschiede zwischen den SE lern waren nicht geringer als die zwischen lebenden Menschen. Alle hatten ihre positiven und ihre negativen Seiten – klang ein bisschen abgedroschen, aber Theo hätte wirklich nicht erwartet, dass Engel unterschiedliche Qualitäten hatten. Ein Engel war ein Engel, sollte man meinen. Na ja, er hatte auch nie über Schutzengel nachgedacht. Genauso wenig hätte er erwartet, dass der Tod voller Überraschungen sein und eine sinnvolle Existenz darstellen konnte – obwohl der Schmerz und das Heimweh und die verzehrende Sehnsucht nach der Berührung eines geliebten Lebenden blieben. Gut, er war nur ein Kopf, und das Mysterium seines Bewusstseins in diesem körperlosen Kopf konnte er nicht aufklären, solange er in der Kaserne war, nach wie vor in Gehweite (okay, »gehen« nur in der Vorstellung) zu den
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